Bewaffnet für die Menschenrechte?

Auf einem Sonderparteitag tragen Bündnis 90/ Grüne heute ihre friedenspolitische Kontroverse aus / Ludger Volmer plädiert für Menschenrechts-Interventionismus – ohne Waffen  ■ Von Matthias Geis

Berlin (taz) – Daß die Kontroverse um den Krieg im ehemaligen Jugoslawien und die Konsequenzen für die bündnisgrüne Friedens- politik auf einem Parteitag ausgetragen werden müsse, war seit langem die Auffassung derer, die die Antworten eines prinzipiellen Pazifismus auf die Leiden der bosnischen Muslime nicht nur für unzureichend, sondern auch für zynisch halten. Doch nicht das Drängen der Bundestagsabgeordneten Gerd Poppe und Vera Wollenberger, der Grünen Marieluise Beck oder Danny Cohn-Bendit, sondern ein „Regiefehler“ – so die Formulierung von Parteisprecher Ludger Volmer – sorgte dafür, daß die Grünen die brisante Debatte heute auf einem Sonderparteitag in Bonn austragen.

Im Juni nämlich hatte der ebenfalls in Bonn tagende Länderrat einen spektakulären Beschluß gefaßt. Darin war das „Prinzip der Gewaltfreiheit“ durch den „Schutz der Menschenrechte“ als „ein gleichrangiges Prinzip“ bündnisgrüner Politik ergänzt worden. Angesichts der „ethnozentristisch-imperialistischen Großmachtpolitik“, die in Bosnien-Herzegowina auf schreckliche Weise wüte, hieß es in dem Beschluß weiter, könne „der Einsatz von Zwang und Gewalt“ nicht „von vornherein völlig ausgeschlossen werden“ um wenigstens „das nackte Überleben der Menschen zu sichern.“ Doch das grün-notorische Abstimmungschaos in dem der kontroverse Text plötzlich eine Zweidrittelmehrheit erhielt, wurde von den Antragsgegnern zur Delegitimierung der Abstimmung genutzt. „Das Bild unserer Friedenspolitik ist undeutlich geworden“, verlautete aus dem Bundesvorstand. Der niedersächsische Bundesratsminister Jürgen Trittin hingegen sprach von einer „umfassenden Revision friedenspolitischer Positionen der Partei“: „Der Beschluß muß vom Tisch.“ Trittin gehört zu denjenigen West-Grünen, die, wenn sie von „den Positionen der Partei“ sprechen, sich wie selbstverständlich auf den west-grünen Fundus beziehen. Zwar wollen auch profilierte Bündnispolitiker wie Werner Schulz und Marianne Birthler eine Ost-West-Konfrontation in der Friedensfrage nicht sehen; doch unverkennbar ist, daß vor allem führende Bündnis-Politiker angesichts der Gewalteskalation im ehemaligen Jugoslawien die prinzipiell pazifistische Orientierung in Frage stellen und dabei von west-grüner Seite nur vereinzelt unterstützt, dafür aber um so schärfer kritisiert werden.

Die Befürworter einer „humanitären Intervention“, betrieben, so der Hauptvorwurf, eine „gesellschaftliche Relegitimierung“ militärischer Konfliktbewältigung. Dies geschehe zu einer Zeit, in der Bundesregierung und Bundeswehrführung mit Macht an einer Militarisierung der deutschen Außenpolitik arbeiteten. Mit dem Bonner Länderratsbeschluß entfernten sich die Grünen von ihrer eigentlichen Aufgabe einer Entmilitarisierung internationaler Konfliktbewältigung wie einer Zivilisierung deutscher Außenpolitik.

In ihrem Antrag für den Parteitag haben die Befürworter einer humanitären UNO-Intervention in Bosnien – Gerd Poppe, Eva Quistorp, Reinhard Weißhuhn, Wolfgang Templin, Vera Wollenberger und andere – noch einmal versucht, diese Vorwürfe zu entkräften: Gewalt und Krieg seien als Mittel der Politik abzulehnen; doch das Recht auf Notwehr, der Schutz von Menschenleben bleibe „Verpflichtung für alle, die Gewalt und Krieg ablehnen.“ Während dem prinzipienfesten Pazifismus erst eine gewaltsam durchgesetzte Nothilfe für die vom Tod bedrohte Zivilbevölkerung als „Relegitimierung militärischer Mittel“ gilt, bewerten die Bürgerrechtler gerade den fortdauernden Terror gegen die Zivilbevölkerung sowie die diplomatische Sanktionierung der serbischen Kriegserfolge als Anerkennung militärischer Machtstrategie. Auch Poppe und andere fordern einen konsequenten Ausbau ziviler Konfliktprävention. Doch wollen sie den Einsatz von Gewalt als letztes Mittel nicht prinzipiell ausschließen, wenn nur so das Überleben bedrohter Menschen gesichert werden könne.

„Wo Macht und Gewalt die einzige Sprache sind, muß Zwang dagegengesetzt werden. Gegen Faschismus helfen keine Appelle an die humanitären Werte, gegen Völkermord nicht der Aufruf, Menschenleben zu respektieren. Hier muß schnell, hart, effektiv und konsequent gehandelt werden.“ Diese unmißverständlich klingende Passage stammt nicht von Gerd Poppe, sondern aus Ludger Volmers „friedenspolitischen Leitlinien“, die im Vorfeld des Parteitages eine 9:2-Mehrheit im Bundesvorstand, allerdings gegen die Stimme von Partei-Sprecherin Marianne Birthler, fanden. Schon ganz in bürgerrechtlichem Duktus plädiert der Grünen-Sprecher für eine konsequente „Durchsetzung der Menschenrechte“, die als „universell und unteilbar“ charakterisiert werden und deren Verletzung „internationales Eingreifen“ nach sich ziehen müsse. Doch die Scheidelinie zwischen legitimem und illegitimem Zwang im Sinne der Menschenrechte sieht Volmer mit militärischen Einsätzen überschritten. In der Entwicklung eines vorwiegend ökonomischen „Sanktions-Instrumentariums“ sieht der Antrag die zivile Alternative zu den gegenwärtigen Vorschlägen einer Militarisierung der UNO.“ Volmer plädiert für „Überwachungsverbände mit zollpolizeilichem Charakter“. Keine Waffen, keine Soldaten – „sonst wäre ein für allemal die Gewaltfreiheit als Utopie der universellen Garantie der Menschenrechte verloren.“

Keine der beiden Seiten setzt, so scheint es, auf Eskalation. Volmer hat sich in seinem Text der Forderung einer interventionistischen Politik im Sinne der Menschenrechte geöffnet; zudem wissen sich die Befürworter auch militärischer Maßnahmen zur Durchsetzung humanitärer Ziele in der Minderheit. Sie wollen deshalb auf dem Parteitag den Volmer-Antrag unterstützen, um ihn dann durch Änderungsanträge in ihrem Sinne zu konkretisieren. Auch im Umkreis von Joschka Fischer ist ähnliches geplant. Die Bündnis-Politiker wollen unter anderem für eine Klausel eintreten, mit der im Falle von Völkermord auch militärisches Eingreifen nicht von vornherein ausgeschlossen wird. Doch die Chancen für einen solchen Vorstoß stehen eher ungünstig, und es würde nicht überraschen, wenn die Bonner Versammlung den „Länderrats-Ausrutscher“ vollständig korregieren würde. Allen Vertretern der reinen Lehre kommt ohnehin zugute, daß die Bilder des jugoslawischen Schreckens derzeit aus den Medien weitgehend verschwunden sind. So ließe sich heute in Bonn um so selbstgerechter an den überkommenen Prinzipien festhalten.