"Um Rußland aus der Not zu retten"

■ Erste Kandidaten für Parlaments- und Präsidentenwahlen melden sich zu Wort / Auch Gorbatschow ist dabei / Boris Jelzin suspendiert die Arbeit von zwei weiteren Parteien und löst die regionalen ...

Berlin (taz) – Der russische Präsident Boris Jelzin hat den Ausnahmezustand für Moskau um eine Woche verlängert – doch die ersten Kandidaten für die nun anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen machen bereits von sich reden. Als erster hatte schon in der vergangenen Woche Vizeministerpräsident Sergej Schachrai das Wort gegen den Präsidenten erhoben. Der für Nationalitätenfragen zuständige Jelzin- Vertraute, der Anfang des Jahres von der Zeitung Moskow News bereits als der zukünftige erste Mann Rußlands gefeiert worden war, kündigte an zurückzutreten, wenn Jelzin die örtlichen Sojwets auflösen sollte. Zwar hat der Präsident am Samstag die Auflösung der örtlichen Vertretungen – mit Ausnahme der Sowjets der Republiken – tatsächlich angeordnet, zurückgetreten ist Schachrai bisher jedoch nicht. Politische Beobachter sahen seine Ankündigung daher als Einstieg in den Wahlkampf ums Präsidentenamt.

Als erster Kandidat für die Parlamentswahlen meldete sich am Freitag Nikolai Trawkin von der Demokratischen Partei zu Wort. Der Vorsitzende einer der regional stärksten Parteien Rußlands, die, als antikommunistische Organisation gegründet, heute zu den liberal-konservativen Parteien gezählt wird, hält die für Dezember geplanten Wahlen zwar für „nicht wirklich demokratisch“, meint aber, daß sie der einzige Weg seien, die Präsidialherrschaft zu überwinden.

Ihren Vorwurf, Jelzin bereite undemokratische Wahlen vor, sahen die Gegner des Präsidenten inzwischen einmal mehr bestätigt. Das Justizministerium verbot mit der Kommunistischen Partei der russischen Förderation und der Volkspartei Freies Rußland „bis auf weiteres“ erneut zwei Gruppierungen, die sich an dem Putschversuch beteiligt haben sollen. Das entsprechende Beweismaterial wurde inzwischen der Staatsanwaltschaft zugeleitet. Die Volkspartei hatte sich erst kurz vor dem Angriff auf das Fernsehzentrum von ihrem Vorsitzenden Alexander Ruzkoi distanziert.

Auf Jelzin eingeschossen hat sich auch Michail Gorbatschow. Kaum ein Tag vergeht, an dem er kein Interview gibt, kaum einer, an dem er sich nicht als „Retter in der Not“ anbietet. Zwar hat Gorbatschow eine Präsidentschafskandidatur bisher nicht direkt angekündigt, seine vielfachen Äußerungen lassen aber keinen Zweifel daran, daß er dazu nur allzu gerne aufgefordert werden würde.

Worauf er diese Hoffnungen aufbaut, ist mehr als fraglich. Jüngste Umfragen haben gezeigt, daß nur vier Prozent der Moskauer ihn wieder im Kreml sehen wollen, kritisiert wird er sowohl von Jelzin- Gegnern wie Anhängern. Die einen sehen ihn weiterhin als Zerstörer von Sozialismus und Sowjetunion, seine ehemaligen Anhänger haben sich spätestens nach dem Blutbad in Vilnius im Januar 1991 von ihm abgewandt. Völlig unklar ist jedoch auch, mit welchem Programm der ehemalige Generalsekretär der KPdSU heute antreten will.

Seinen Anspruch auf das Präsidentenamt vorsichtig angemeldet hat am Wochenende schließlich ein weiterer Mitstreiter Jelzins. Alexander Sobtschak, Bürgermeister von St. Petersburg, hatte 1990 kurz nach Boris Jelzin seinen Austritt aus der KPdSU erklärt, so wie Jelzin in Moskau organisierte er in Leningrad den Widerstand gegen den August-Putsch. Ähnlich wie Gorbatschow und andere Kritiker Jelzins forderte er nun die Verlegung der Parlamentswahlen auf das kommende Frühjahr. Da das Parlament die „existentiell wichtige“ Aufgabe habe, eine Verfassung anzunehmen, wäre es verhängnisvoll, wenn „wieder Zufallskandidaten und unbekannte Leute gewählt werden“ würden.

Da für die Wahlvorbereitungen tatsächlich nur noch zwei Monate zur Verfügung stehen, hat Jelzin sich bisher nicht festgelegt, ob am 12. Dezember auch die regionalen Parlamente neu gewählt werden sollen. Darüber soll nun eine Regierungskommission entscheiden. Jelzin versicherte, alle Parteien und Organisationen, deren Kandidaten sich nicht direkt an dem Putsch beteiligt hätten, würden während des Wahlkampfes die gleichen Rechte haben. Auch der Zugang zu den Medien stehe allen Parteien offen. Die Wahlen sollten von internationalen Beobachtern verfolgt werden. her