: Südchinas strahlende Zukunft
Noch in diesem Herbst soll das Atomkraftwerk von Daya Bay in der Nähe der britischen Kronkolonie Hongkong in Betrieb gehen ■ Aus Hongkong Werner Meißner
Hongkong hat zur Zeit drei große Probleme. Das erste ist die zukünftige Beziehung zur VR China – 1997 soll Hongkong von der Volksrepublik übernommen werden, seit gestern unternehmen Delegationen aus China und Großbritannien zum nunmehr 13. Mal einen Versuch, die Modalitäten dieses Übergangs zu regeln. Das zweite Problem ist die Umwelt. Die Verschmutzung des Wassers und der Luft nimmt von Jahr zu Jahr zu. Das dritte und vielleicht größte Problem ist das Atomkraftwerk Daya Bay, 50 Kilometer nordwestlich von Hongkong in der Provinz Guangdong. Pessimisten sagen: 1997 fürchten wir nicht so sehr, wir fürchten vor allem den Herbst 1993, wenn Daya Bay ans Netz geht. Inzwischen sind die Brennstäbe zur Probe eingefahren worden.
In Hongkong scheint die Sonne fast das ganze Jahr. Nur zwischen April und Juni herrscht Regenzeit. Im Juli, August und September sorgt hin und wieder ein Taifun für eine Wolkendecke. Danach scheint die Sonne noch stärker, denn die Luft ist dann besonders sauber. Trotzdem habe ich in Hongkong bisher ein einziges Solarmodul gesehen – es war auf einer Mütze befestigt. Fünf mal zehn Zentimeter groß, trieb es einen kleinen Ventilator an, der im Schirm der Mütze eingebaut war. Eine japanische Erfindung: der Ventilator kühlt die Stirn. Da der Lärmpegel in Hongkong immer sehr groß ist, stört das Surren nicht weiter. Die Solarmützen werden an Verkaufsständen angeboten, wo viele Touristen vorbeikommen; sie leiden unter der Hitze bekanntlich am meisten.
Auch Wind gibt es genügend in Hongkong. Auf den mehr als zweihundert, meist unbewohnten Inseln der Kolonie, die wie die Rücken von riesigen Walfischen aus der südchinesischen See ragen, weht meist ein kräftiges Lüftchen. Doch Energiewindmühlen sind hier genausowenig bekannt wie Abgaskatalysatoren für Autos. Hongkong vertraut vor allem auf Kohle und neuerdings – auf Atomenergie.
Das schnelle Wirtschaftswachstum hat in ganz China die Nachfrage nach Energie stark erhöht. Im letzten Jahr konnte der Bedarf nur noch zu achtzig Prozent gedeckt werden. Die Industrie braucht Strom, vor allem in Südchina, wo die Wirtschaft traumhafte Zuwachsraten aufweist. So die Küstenregion Guangdong mit der landesweit höchsten Rate von über zwanzig Prozent. Die Provinz Guangdong ist etwa halb so groß wie die Bundesrepublik und hat rund 65 Millionen Einwohner. Der fehlende Strom für Guangdong und Hongkong soll nun aus Daya Bay kommen, dem neuen Atomkraftwerk.
1985 unterzeichneten die „Hong Kong Nuclear Investment Company“ und die „Guangdong Nuclear Investment Company“, die dem chinesischen Ministerium für Atomindustrie gehört, den Vertrag über ein Joint-venture für den Bau und den Betrieb von Daya Bay. Es ist das zweite AKW in der VR China. Das erste steht in Qinshan, 125 Kilometer südlich der 13-Millionen-Metropole Shanghai. Qinshan ist ein weitgehend chinesisches Modell. Wegen ständiger technischer Pannen liefert es bisher nur wenig Strom.
Daya Bay wurde dagegen von den französischen Atomgiganten Framatome und der Electricité de France gebaut. Sie werden auch noch Qinshan mit zwei 600-Megawatt-Reaktoren nachrüsten. Daya Bay verfügt über Druckwasserreaktoren mit einer Leistung von zunächst 900, später 1.800 Megawatt. Spätestens ab Dezember soll das Kraftwerk ans Netz gehen. Siebzig Prozent des dort erzeugten Stromes werden an das ebenfalls energiehungrige Hongkong geliefert.
Die Tatsache, daß Hongkong am Bau des AKW Daya Bay beteiligt ist, trägt wohl mit dazu bei, daß die Regierung der Kolonie die Sicherheitsrisiken ständig herunterspielt. Tatsächlich war Daya Bay von Anfang an umstritten. Zehn Jahre lang haben Umweltschützer einen vergeblichen Kampf gegen den Bau geführt.
Experten schätzen, daß im Falle einer Kernschmelze die radioaktive Wolke binnen weniger Stunden die Millionenmetropole erreichen wird. Eine Evakuierung Hongkongs kommt laut Regierung nicht in Betracht. Pläne zur Evakuierung würden das Chaos nur vergrößern, heißt es. Die sechs Millionen Einwohner sitzen dann in der Falle (ganz abgesehen von den Einwohnerns Guangdongs): Der „Kai Tak Airport“ ist schon jetzt mit rund 700 Starts und Landungen pro Tag völlig überlastet. Eine Evakuierung oder Flucht wäre theoretisch nur übers Wasser möglich. Fliehen könnte ohnehin nur, wer ein Ticket bezahlen kann und genug Geld für das Überleben im Ausland hat. Die Besitzer der zahlreichen Hochseeyachten in den Buchten Hongkongs hätten es da am besten.
Auch bei einem kleinen Atomunfall wären im Falle radioaktiven Niederschlags nach wenigen Tagen die Vegetation Hongkongs und die zahlreichen Trinkwasserreservoires samt den großen Fischfarmen kontaminiert.
Ein Drittel der Nahrungsmittel für die Bewölkerung kommt aus dem Norden Hongkongs, den „New Territories“. Der Rest wird fast ausschließlich aus Südchina geliefert und wäre wahrscheinlich ebenfalls verseucht.
Für alle Fälle hat das Königliche Observatorium an der Grenze zu Guangdong immerhin zehn Meßstationen eingerichtet. Sie werden dann per Telefon die Ankunft der tödlichen Wolke über Hongkong melden. Die chinesische Seite hat sich bisher hartnäckig geweigert, einer Direktleitung vom Kraftwerk nach Hongkong zuzustimmen. Vereinbart wurde nur, daß Daya Bay radioaktive Zwischenfälle an die zuständigen Stellen in Guangzhou (Kanton) meldet. Danach entscheidet Guangzhou, ob Hongkong telefonisch informiert wird. Daher geht man hier davon aus, daß Hongkong von einem Zwischenfall erst über die eigenen Meßstationen erfahren wird, und danach erst über einen Telefonanruf aus Guangzhou, wenn überhaupt.
Die Regierung in Hongkong schließt natürlich größere Zwischenfälle in weiser Voraussicht aus. Sollte sich aber doch wider Erwarten ein Zwischenfall ereignen, so hat sie immerhin einen Notfallplan, den „Daya Bay Contingency Plan (DBCP)“, ausgearbeitet: Wenn das Königliche Observatorium Alarm schlägt, treten 38 Regierungsabteilungen unter Leitung eines Notstandskomitees in Aktion: Über die Medien, aber auch von Hubschraubern mit Lautsprechern, die dann über den Wolkenkratzern kreisen, wird die Bevölkerung aufgefordert, die Fenster zu schließen und vor allem die Aircondition auszustellen, bis sich die Wolke wieder verzogen hat. An allen Grenzkontrollstellen werden Menschen und Material auf radioaktive Verseuchung hin untersucht und notfalls dekontaminiert. Weiterhin verspricht der Plan, die zuständigen Stellen würden „sicherstellen, daß die Öffentlichkeit kein Wasser und keine Nahrungsmittel konsumiert, die in unakzeptabel hohem Maße radioaktiv kontaminiert sind“. Wie das sichergestellt werden soll, wird nicht ausgeführt, auch nicht, was passiert, wenn die Trinkwasserreservoires verseucht sind, und woher im Notfall Nahrungsmittel für sechs Millionen Menschen kommen sollen. Auch die Frage, was geschieht, wenn verseuchtes Seewasser über längere Zeit an die Küsten Hongkongs schwappt, wird nicht beantwortet. Auf die Konsequenzen eines GAUs wie in Tschernobyl geht der Plan nur mit den Worten ein, die Chancen hierfür seien „außerordentlich klein“.
Daya Bay ist erst der Anfang von Guangdongs nuklearer Zukunft. Das nächste AKW mit 4.000 Megawatt entsteht bis zum Jahr 2000 bei Yangjiang, 160 Kilometer westlich der portugiesischen Kolonie Macao. In den nächsten zehn Jahren sollen in Guangdong insgesamt noch sechs Atomkraftwerke gebaut werden. Südchina geht einer strahlenden Zukunft entgegen.
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