Ahasver trifft Intifada

Multiperspektivisches Epos. Abraham Bar Jehoschuas historischer Roman erzählt von der Familie Mani – und vom Versuch der sephardischen Juden, die Diaspora zu überwinden  ■ Von Petra Kohse

Als Familiengeschichte ist Abraham Bar Jehoschuas Roman „Die Manis“ ein Sonderfall. Das Buch enthüllt seine Geschichte nur in einzelnen Mosaiksteinen. Es ist widerspenstig in der Struktur. Es läßt viele Fragen unbeantwortet. Es ist angenehm ungemütlich, ein bemerkenswertes Buch.

Jehoschua, aus dessen reichhaltigem Werk bereits mehrere Romane, Erzählungen und Theaterstücke ins Deutsche übersetzt wurden, veröffentlichte „Herr Mani“ (so die wörtliche Übersetzung des hebräischen Originaltitels) bereits 1986 als Erzählung. Vier Jahre später erschien in Israel die über mehrere Mani-Generationen fortgeführte Romanfassung. Der Titel blieb zu Recht im Singular. Denn anders als die deutsche Variante nahelegt, geht es keineswegs um die Geschichte der Sippe, sondern um den jeweils einzelnen und um das, was ihn mit seinen Vorfahren verbindet.

Wie der Autor sind die Herren Mani sephardische Juden. Ihre Geschichte treibt sie seit mindestens 150 Jahre zwischen Istanbul, Saloniki, Kreta, Beirut und Jerusalem umher. Die Geschichte wird fast ausschließlich in wörtlicher Rede erzählt, und zwar von Außenstehenden. Eine israelische Studentin, ein deutscher Feldwebel, ein englisch-jüdischer Leutnant und ein ostjüdischer Arzt berichten einer Person ihres Vertrauens von der Begegnung mit einem oder mehreren der Mani-Familie. Eine rätselhafte Anziehungskraft scheint von den Manis auszugehen, die das Bedürfnis weckt, ihre dunkle Lebensgeschichte zu ergründen. Die Sprechenden geraten in den Bann von Einsamkeit, Todesdrang und gleichzeitiger Besessenheit von einer Idee, die den Namen „Jerusalem“ trägt. Davon drängt es sie zu berichten. Erst als fünfter Sprecher ergreift ein Mani selbst das Wort. Jehoschua läßt uns die Schicksalskette im Krebsgang erschließen.

Die Gesprächsform befremdet, wirkt fast ein wenig bemüht, zumal sich die Charakteristik der jeweiligen Sprechweise in stets die gleiche blumige und detailversessene Epik auflöst, sobald die Rede auf die Manis kommt. Überdies wird die Vertrauensperson, an welche die Reden gerichtet sind, nicht weiter beleuchtet. Was man liest, sind sozusagen monologe Dialoge. Das wiederum ist raffiniert. Aus den Leerstellen und der Art, wie der Sprechende auf sein für uns schweigendes Gegenüber Bezug nimmt, wird neben und hinter der jeweiligen Geschichte auch das Verhältnis der Gesprächsteilnehmer zueinander deutlich.

Was sich in den fünf Gesprächen stückchenweise enthüllt, ist eine Geschichte des orientalischen Judentums und seiner verzweifelten und stets scheiternden, jahrhundertealten Suche nach Identität. Die Sehnsucht, die in den Erzählungen aufscheint, konkretisiert sich in Jerusalem als realem und utopischem Ort. Ihr Jerusalem nehmen die Juden überall mit hin, heißt es im Text. Jehoschua findet vielfältige Metaphern, um dieses „kleinasiatische Wüstenstädtchen“ in seiner Doppelfunktion zu beschreiben. Es sei „mit Mauern, Türmen und Kuppeln, ein strenger, heller Vers, an den Horizont geschrieben“, sagt beispielsweise der Arzt. Das Herz Jerusalems ist die Klagemauer, der Rest des zerstörten Tempels, ein „eindeutiges, endgültiges Wehr, dazu da, die Juden in ihrer ruhelosen Versessenheit auf die eigene Vergangenheit zu stoppen“.

Als Heiligtum dreier Weltreligionen ist Jerusalem auch der Ort für ein multikonfessionelles Miteinander, wie die Herren Mani im Laufe der Zeit lernen. Josef Mani hält die Araber 1847 noch für „Juden, die noch nicht wissen, daß sie Juden sind“, sein Sohn leitet um die Jahrhundertwende schon eine Geburtsklinik für Frauen aller Volkszugehörigkeiten, und sein gleichnamiger Enkel spioniert 1918 die Englänger aus und hält nachts vor verständnislosen Arabern politische Reden. Er liest ihnen die Balfour-Erklärung vor und fordert sie dazu auf, sich „eine Identität zu schaffen“ und sich auf ein arabisch-jüdisch verwaltetes Palästina vorzubereiten. Doch seine Bemühungen sind vergeblich. Die Engländer kommen ihm auf die Schliche und verbannen ihn nach Kreta.

Auch Liebesgeschichten gibt es in diesem Buch, der Wandel der Lebensverhältnisse wird sichtbar, Glaubensfragen werden angeschnitten, aber das Kernthema ist der Wunsch, das über die ganze Welt versprengte Volk Israel inmitten der gegebenen politischen und geographischen Realitäten wieder in eine friedliche Lebensgemeinschaft zusammenzuführen. Jehoschua endet mit einem Fragezeichen – und setzt noch drei Pünktchen dahinter.

Im biographischen Nachtrag zum ersten Gespräch wird die Geburt eines neuen Mani erwähnt. Sein Vater leistet Reservedienst im besetzten Libanon und will nichts von ihm wissen. Aber der Großvater aus Jerusalem, der sich nach dem Libanonkrieg 1982 umbringen wollte, besucht seinen Enkel, der in einem Kibbuz in der Negev- Wüste aufwächst. Er fährt immer direkt durch die Westbank dorthin. Erst als sein Wagen einmal von einem Stein getroffen wird, überlegt er sich, zukünftig vielleicht doch einen anderen Weg einzuschlagen.

Abraham Bar Jehoschua: „Die Manis“. Roman. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Piper Verlag, 462 Seiten, geb., 44 DM.