„Schwer debil und schwachsinnig“

Das Gutachten, das heute im Prozeß um den Brandanschlag gegen die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen verlesen wird, bescheinigt mutmaßlichem Täter Schuldunfähigkeit  ■ Aus Potsdam Anja Sprogies

Prozeß gegen die mutmaßlichen Brandstifter der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen droht zu einem Fiasko der Potsdamer Justiz zu werden. In dem schon viele Male in die Krise geratenen Verfahren gegen zwei junge Männer aus Prenzlau und Berlin wird heute ein psychiatrisches Gutachten der Berliner Charité verlesen, das dem 19jährigen Ingo K. bescheinigt, „schwer debil und schwachsinnig“ zu sein. Ingo K., dessen Tatbeteiligung ohnehin nicht bewiesen ist, ist danach wahrscheinlich schuldunfähig und müßte freigesprochen werden. Der weltweit mit Empörung aufgenommene Anschlag vom 26. September vergangenen Jahres bliebe damit unaufgeklärt.

Der Rechtsanwalt von Ingo K., Klaus Wendland, bestätigte gestern gegenüber der taz, daß sein Mandant einen Intelligenzquotienten von 58 habe. „Schon bei einem IQ von 70 kann man von Debilität sprechen.“ Zudem schließe das Gutachten eine frühkindliche Hirnschädigung nicht aus. Der Anwalt erhob in diesem Zusammenhang schwere Vorwürfe gegen die Potsdamer Staatsanwaltschaft. „Die haben die ganze Zeit einen Schuldunfähigen gejagt.“ Wendland sieht das Gutachten als ein weiteres Indiz dafür, daß die beiden Staatsanwälte Robert Lenz und Uwe Picard nicht mit der notwendigen Sorgfalt ermittelt hätten. „Die Anklage denkt nicht an Objektivität, sondern nur an die Verurteilung.“

Das psychiatrische Gutachten wurde vor einem Monat von dem Vorsitzenden Richter Przybilla in Auftrag gegeben. Über elf Verhandlungstage hatte der Angeklagte Ingo K. mit immer neuen Versionen zur Tatnacht überrascht. Ständig hatte Przybilla ihn ermutigt, noch einmal in sich zu gehen. „Helfen Sie uns, die Wahrheit zu finden“, forderte der Richter theatralisch auf. Und die Phantasie des Ingo K. war unendlich.

Einmal sagte K. aus, er habe im Herbst letzten Jahres selbst einen Molotowcocktail auf die jüdische Baracke 38 im ehemaligen KZ Sachsenhausen geworfen. Am nächsten Verhandlungstag will er den ganzen Tatabend bei seiner Freundin gewesen sein. Ein anderes Mal war er nur Mitläufer. Und beim Ortstermin in Sachsenhausen stammelte der stotternde Sonderschüler, er selbst und der Mitangeklagte Thomas H. seien nicht am Brandanschlag beteiligt gewesen. Erst da merkte der Richter, daß mit dem Mann etwas nicht stimmte. Anwalt Wendland hatte jedoch schon mehrmals zuvor die Begutachtung seines Mandanten angeregt.

Die schriftliche Expertise liegt bereits seit vergangenem Donnerstag vor. Bezüglich der Glaubwürdigkeit des Angeklagten wird im Gutachten festgehalten, daß Schwachsinnige im allgemeinen zu Phantastereien neigen. Dies sei die einzige Möglichkeit, sich Anerkennung zu verschaffen. Zudem würden debile Menschen gehörte Sachverhalte „als eigen erlebte weitergeben“, zitierte Wendland aus dem Gutachten. Für die Anklage, die sich allein auf die später widerrufenen Geständnisse der beiden jungen Männer stützt, ein vernichtendes Urteil.

Das Gutachten läßt nach Ansicht des Anwalts nur den einen Schluß zu: „schuldunfähig“. Für seinen Kollegen auf der Verteidigerbank, Detlef Knoch, ist die Wertung nicht so eindeutig. Eine verminderte Schuldfähigkeit sei aus dem Gutachten genauso herauszulesen wie die Schuldunfähigkeit in Zusammenhang mit einem erheblichen Alkoholkonsum, meinte er gegenüber der taz. „Die Bewertung ist Sache des Gerichts.“

Jedoch zieht Knoch aus dem Gutachten eigene Schlüsse für seinen Mandanten Thomas H. Der passionierte Eisenbahnfreak hatte in der polizeilichen Vernehmung Anfang Januar ausgesagt, den Brandanschlag zusammen mit 20 anderen Skins verübt zu haben. Bereits am nächsten Tag zog der 22jährige seine Aussage wieder zurück.

„Die hatten mich unter Druck gesetzt“, begründete er seine Aussage später in der Verhandlung. Zudem sei er müde gewesen und wollte seine Ruhe haben. Seitdem blieb Thomas H. bei seiner Version, nicht an der Tat beteiligt gewesen zu sein. Nach dem elften Verhandlungstag wurde dem Angeklagten dann zur Überraschung der Staatsanwaltschaft Haftverschonung gewährt. Richter Przybilla begründete dies damit, daß nur eine „Bewährungsstrafe“ zu erwarten sei.

In der Expertise wird festgehalten, daß Jugendliche zur Prahlerei neigen. In verfahrenen Situationen würden sie dann „alles recht“ machen wollen, „um ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen“. Und sein Mandant wollte beim polizeilichen Verhör eben seine „Ruhe haben“ und sagte deshalb eine erfundene Geschichte aus. Koch sieht darin „ein grundsätzlich typisches Verhalten von Jugendlichen“.

Beide Anwälte gehen davon aus, daß in der heutigen Verhandlung im Anschluß an den Gutachtervortrag plädiert wird. Rechtsanwalt Knoch rechnet damit, daß die Anklage das Gutachten anfechten wird. Wie aus Kreisen der Staatsanwaltschaft zu erfahren war, bestehe bezüglich des Gutachtens noch Aufklärungsbedarf. Unklar ist zum Beispiel eine Passage bezüglich der Glaubwürdigkeit der Aussagen des Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft sieht hier einen unerlaubten Vorgriff auf die Bewertung des Gerichts. Dies stehe einem Gutachter nicht zu, heißt es.

Klaus Wendland forderte indessen, daß jetzt „Köpfe rollen müssen“. Gegen einen Polizeibeamten wurde bereits ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, weil er angeblich Hinweise zu den Tatverdächtigen über zwei Monate nicht weitergeleitet hatte. Wendlands Forderung nach personellen Konsequenzen zielt auf die Ablösung des Staatsanwaltes Lenz. Dieser habe schlampig ermittelt, sei dann bei Eröffnung des Prozesses in den Urlaub gefahren und habe den anderen Staatsanwalt Uwe Picard, der erst eine Woche vor Prozeßbeginn mit dem Fall betraut wurde, „in die Scheiße reingeritten“. Nachdem Lenz aus dem Urlaub zurückgekehrt war, wurde er auf Anweisung von Justizminister Bräutigam wieder mit dem Fall betraut. Justizminister Bräutigam, dem die Staatsanwaltschaft nach jedem Prozeßtag Rapport leisten muß, wollte sich zu möglichen personellen Konsequenzen gegenüber der taz noch nicht äußern. Er kündigte vielsagend eine Pressekonferenz nach dem Urteilsspruch im Sachsenhausen-Prozeß an.