Die Wirklichkeit hat immer recht

■ „Justiz“, ein Ausflug in die Modallogik

Eine alte Disziplin der Philosophie, die trotz ihrer Alltagsnähe nie wirklich populär geworden ist, heißt Modallogik. Dieselbe beschäftigt sich mit dem opaken Zusammenhang von Wirklichkeit und Möglichkeit, der jeden denkenden Menschen umtreibt, wenn er sich beispielsweise die Frage stellt, ob und an welcher Stelle sein Leben auch anders hätte verlaufen können: Soll sie (er) nun davon ausgehen, daß die wirkliche Vergangenheit, eben weil sie wirklich war, so sein mußte? Oder ist die Realität nur eine tatsächlich gewordene Wirklichkeit unter mehreren, womöglich unendlich vielen möglichen Wirklichkeiten? Gibt es also wirklich einen Zufall, oder ist der Zufall eine Unmöglichkeit, welche das Bewußtsein zur Ehrenrettung seiner selbst uns vorspiegelt? Und wie ist, hat man einmal mit dieser Grübelei begonnen, beispielsweise Geschichtsschreibung überhaupt möglich – muß die Historie beschrieben werden als logische, gewissermaßen zwanghafte Folge (wie etwa der Marxismus nahelegt) oder (wie die Bürgerlichen meinen) als eine ins Offene geschriebene Geschichte, die von Individuen – den Verkörperungen des individuell Möglichen schlechthin – gemacht wird?

Sie sehen: Fragen über Fragen. Dem Vernehmen nach arbeitet eine Gruppe ganz heller Jungs an diesen und anderen Problemen der Modallogik derzeit in Princeton; die Filmindustrie hat aber deren Ergebnisse, des Drucks ihrer Umschlagzeit halber, nicht abwarten können, sondern schon einmal ihren Beitrag zu solchen Rätseln des Geistes geliefert: mit der Dürrenmatt-Verfilmung „Justiz“, verantwortet von Hans W. Geissendörfer.

Um es gleich zu sagen: Es ist kein ganz schlechter Film. Die Vorlage Dürrenmatts ist schon, für dessen klare Verhältnisse als Kriminalautor, einigermaßen unübersichtlich, was Handlung und Motive betrifft; dazu hat der Autor, der wie Kollege Frisch gern und unermüdlich über die Schweiz, das Bürgertum und metaphysische Probleme der erläuterten Art dachte und schrieb, das Buch gespickt mit schwer philosophischen Erwägungen, denen ein deutscher Filmemacher natürlich nicht widerstehen kann. So ist aus der Geschichte eines Rachefeldzuges aus den edelsten Motiven (Vater rächt Tochter), die mit niederen (Geschäftsmann erledigt Feinde) aufs undurchdringlichste gemischt sind, nicht nur im Film eine Amplifikation des Kernproblems der Modallogik geworden. Eine Zwergin läßt das Leben, das sie selber führen wollte, von einer anderen realisieren; ein Mörder gibt einem Rechtsanwalt den Auftrag, mögliche (fiktive) andere Täter zu ermitteln, und fast alle Beteiligten sind unaufhörlich damit beschäftigt, die Wirklichkeit um verpaßte Möglichkeiten derselben zu ergänzen. Die daraus folgenden Dialogsätze sind nicht ohne unfreiwillige Komik, verglichen mit den üblichen Zumutungen des Krimigenres allerdings sehr gut erträglich. Außerdem wird ein äußerst angenehmes Schwyzerdütsch gesprochen.

Zu loben ist vor allem ein Darsteller: Maximilian Schell, der dem undurchsichtigen Drahtzieher der ganzen Geschichte genau jenen göttlich-eleganten Gleichmut verleiht, den ein unbewegter Beweger braucht. „Das Leben“, heißt es bei Max Frisch, „ein Spiel.“ Kollege Dürrenmatt drückt es präziser aus: „Das Mögliche“, läßt er seinen unbewegten Beweger sagen, „ist beinahe unendlich, das Wirkliche streng begrenzt, weil doch nur eine von allen Möglichkeiten zur Wirklichkeit werden kann. Das Wirkliche ist nur ein Sonderfall des Möglichen und deshalb auch anders denkbar.“

Auch dieser Film wäre anders denkbar gewesen: trockener, kühler, mit weniger Willen zur Kunst. Aber unter den vielen Möglichkeiten hat Geissendörfer nicht die schlechteste verwirklicht. Elke Schmitter

„Justiz“, Regie und Buch: Hans W. Geissendörfer. Mit Maximilian Schell, Thomas Heinze, Anna Thalbach, Hark Bohm und anderen. BRD, 106 Minuten.

„Justiz“, Roman von Friedrich Dürrenmatt. Diogenes Taschenbuch, 227 Seiten, 16,80 DM.