Kriegsverbrechen und Völkermord verjähren nicht

Im fünften Teil der taz-Serie zur Geschichte in Osteuropa geht es um eine weitere „Wende“: Wurden früher die Verbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg propagandistisch genutzt, so sind es heute diejenigen der Russen  ■ Von Klaus Bachmann

Dimitrij Bachtyn, angeblicher Kulak, wurde am 8. Januar 1933 vom Regionsgericht in Tschernigov wegen „konterrevolutionärer Sabotage gegen den Brotplan“ zum Tode durch Erschießen verurteilt und hingerichtet. Er war nicht der einzige. Die Lokalzeitung Leninski Put (Der leninsche Weg) wußte noch von weiteren Fällen zu berichten, in denen „Kulaken und ihre Helfershelfer den Brotplan stören und ihren dunklen Geschäften auf Kosten des sozialistischen Kollektivs nachgehen“. Sie alle hatten eines gemeinsam: Sie alle hatten Hunger und deshalb größere Brotvorräte angelegt, statt das Brot den kommunistischen Rollkommandos abzugeben. Denn nachdem die Zwangskollektivierung der Ukraine, die auf Stalins Befehl 1929 angelaufen war, zu einer beispiellosen Hungersnot geführt hatte, war die Staatsmacht dazu übergegangenen, auch die Mägen zu kollektivieren: Das Getreide und die gesamte Brotproduktion wurden beschlagnahmt und zentral verteilt. Wer nicht verhungern wollte, legte Vorräte an. Wurden diese gefunden, drohte das Schicksal Bachtyns.

Obwohl die kommunistischen Behörden ihr Bestes taten, das Massensterben mit einem Schleier der Desinformation zuzudecken, blieb die Erinnerung an den „großen Hunger“ lebendig. Mitte der achtziger Jahre wurde seine Aufarbeitung zu einem der zentralen Themen der ukrainischen Opposition. Im September beging die Ukraine den Jahrestag der Hungersnot nun zum erstenmal auch ganz offiziell. Die Archive wurden geöffnet und Teile daraus im „Ukrainischen Haus“, dem ehemaligen Kiewer Leninmuseum ausgestellt.

Ukrainische Historiker sind bei ihren Forschungen zu dem Schluß gekommen, daß das Massensterben der frühen dreißiger Jahre ein geplanter und gezielter Genozid zur „Ausrottung“ der Ukrainer war. Damit erhält die Aufarbeitung der Geschichte eine ausgesprochen politische Dimension: Die nationale Opposition konnte in zahlreichen Fernsehsendungen darauf hinweisen, daß Rußland damals wie heute der Gegner sei und die Ukrainer aus dieser Richtung noch nie etwas Gutes zu erwarten hatten. Nach über 50 Jahren, in denen die deutschen Verbrechen in der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs propagandistisch ausgeschlachtet wurden, die sowjetischen jedoch tabu waren, kommt es nun zu einer Umkehrung.

In der Westukraine hängt das auch damit zusammen, daß die größte Partisanenorganisation dort die nationalistische UPA, die „Ukrainische Aufstandsarmee“ war. Da diese aber nicht nur gegen die Wehrmacht, sondern auch gegen die Rote Armee, gegen Juden (die oft pauschal als kommunistische Agenten verdächtigt wurden) und polnische Nationalisten kämpfte, kann an sie offiziell erst seit wenigen Jahren erinnert werden. Das wird nun nachgeholt: Erinnerungen ehemaliger UPA- Kämpfer und Biographien des UPA-Anführers Stefan Bandera gehören zu den Rennern in Buchläden und auf den Ständen fliegender Händler, die in den Straßen allerlei patriotische Literatur anbieten. In Lviv hat man gleich den Großteil der Straßen umbenannt, eine der größten in der Innenstadt ist nach Bandera, andere sind nach Kossakenhetmännern benannt, dazu entstehen nun Denkmäler für die UPA und ihre Führer.

Obwohl die Ukrainer nur für ganz kurze Zeiträume ihrer Geschichte einen eigenen Staat besaßen ist die heutige ukrainische Nationalbewegung ohne Rückgriffe auf die Geschichte nahezu undenkbar. Da Bücher über die ukrainische Unabhängigkeit bisher fast nur im Exil erscheinen konnten, werden diese nun in der Ukraine nachgedruckt. Auch die „Wissenschaftliche Schewtschenko-Gesellschaft“ in Lviv, die bereits im 19. Jahrhundert entstand, lebt seither wieder auf und hat den Druck der „Ukrainischen Enzyklopädie begonnen, ein gigantisches Unternehmen, das mit Subskriptionen finanziert werden soll.

Nur sehr geringes Interesse zeigte die ukrainische Emigration allerdings bisher für die Aufarbeitung eines anderen Teils der Nationalgeschichte: In den ukrainischen Nachdrucken der Exilliteratur sucht man daher oft vergebens nach Hinweisen auf jüdische Progrome in der Ukraine, auf die Massenvertreibung der polnischen Bevölkerung zu Ende des Zweiten Weltkrieges oder auf ukrainische Freiwillige in der SS.

Bei der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit müssen sich ukrainische Historiker und Intellektuelle oft durch ein Dickicht aus Fälschungen, Mythen und Halbwahrheiten kämpfen, die zum Teil sehr geschickt von der kommunistischen Propaganda unterderhand verbreitet wurden — und auch den Haß zwischen den „sozialistischen Brudervölkern“ schürten. So sind viele Polen bis heute davon überzeugt, daß Kaminski und Wlassow, die Anführer zweier Haufen von SS-Freiwilligen, Ukrainer waren. Diese Freiwilligen zeichneten sich bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes vor 49 Jahren durch besondere Grausamkeiten aus. Tatsächlich aber war Kaminski Pole und Wlassow Russe.

Einstweilen werden die sowjetischen Verfälschungen aufgearbeitet, um die Verfälschungen der eigenen Historiographie aufzuarbeiten, fehlt noch der Abstand. Die Folge davon ist, daß historische Debatten über die Ukraine häufig in Stereotypen und Pauschalurteilen enden. Jüngstes Beispiel: der Fall Demjanjuk.

Für dessen Freilassung bildeten sich inzwischen drei Hilfskomitees in der Ukraine, die bei Besuchen israelischer Politiker in der Ukraine jeweils heftig protestierten und demonstrierten. Ihre Furcht: Demjanjuk stehe nicht als er selbst vor Gericht, sondern mit ihm die Ukraine.

Kaum war er freigesprochen, brach den Beamten des Außenministeriums in Kiew der kalte Schweiß aus: Demjanjuk ist gebürtiger Ukrainer und hatte als solcher bereits einen Einreiseantrag gestellt. Doch einen ehemaligen SS-Freiwilligen, der zwar nicht „Iwan der Schreckliche“ aus Treblinka, nichtsdestotrotz aber auch kein Unschuldslamm gewesen sein kann, triumphal in Kiew zu empfangen, hätte dem verbreiteten Stereotyp von Ukrainern als Nazischergen noch mehr Nahrung gegeben als Demjanjuks Verurteilung.

An Kiews Diplomaten im Ausland erging daher auch schnell die Anweisung, bei jeder sich bietenden Gelegenheit darauf hinzuweisen, daß Kriegsverbrechen wie Völkermord in der Ukraine nicht verjähren und Demjanjuk auch in Kiew vor Gericht gestellt werden könne.