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Respektlos gegen Mythen

■ „Uni-Angst und Uni-Bluff“: Plädoyer für Neugier statt Theater

„Wie schon Marx im 3. Kapitel des ersten Bandes des Kapitals herausgearbeitet hat ...“ Wer seinen Redebeitrag im Seminar so anfängt, hat offenbar einiges gelesen und viel behalten. Die MitstudentInnen sind beeindruckt. Oder weiß der Schlaumeier vielleicht doch nicht ganz so viel wie er vorgibt?

Zu berichten ist von der ungewöhnlichen Karriere eines Buches in Zeiten der täglichen Neuerscheinungen über alles und jedes: 15 Jahre nach der Erstveröffentlichung hat der Berliner Politologe und Therapeut Wolf Wagner seinen Klassiker „Uni-Angst und Uni-Bluff“ überarbeitet wieder veröffentlicht. Offenbar ist in der Zwischenzeit keine andere Analyse auf den Markt gekommen, die auf nur 110 gut zu bewältigenden Textseiten den Finger so deutlich in die Wunden des akademischen Zusammenlebens legt, so verständlich die Mechanismen von Angstabwehr und Überleben im universitären Alltag aufzeigt und so respektlos den Wissenschaftsmythos zerpflückt.

Was bereits gegen Ende der 70er Jahre in Erstsemesterveranstaltungen anhand Wagners Thesen diskutiert wurde, gehört leider immer noch nicht auf den Müllhaufen der Hochschulgeschichte. Unverständliche Satz-Ungetüme, gespickt mit Fachausdrücken und Fremdwörtern, angebliche oder tatsächliche Zitate irgendwelcher Koryphäen gehören zum Rüstzeug, will Student oder Studentin Karriere machen. Die ZuhörerInnen zu verunsichern, sich selbst unangreifbar zu machen und somit glänzend dazustehen ist Ziel solcher Auftritte. Wagner entlarvt dieses gängige Verhalten als Folge der hierarchischen Orientierung deutscher Universitäten, in denen nur gilt, wer sich mit seinem vermeintlichen Wissen überzeugend darstellt.

Bluff entsteht aus Angst (vor scheinbar hochhaushohen Ansprüchen) und erzeugt Angst (beim Blöffer vor der Entlarvung, beim Publikum vor den Kenntnissen des Redners). Bluff führt zu Einsamkeit und Lernblockaden, die nur mit weiterem Bluff zu überspielen sind. Ein Teufelskreis, aus dem nur heil herauskommt, wer kaltschnäuzig genug ist, zumindest einen Teil der erworbenen Blender-Fähigkeiten auch in den Abschlußprüfungen geschickt anzuwenden.

Auch Wagner gibt zu, daß ein gewisses Maß an Anpassung, zum Beispiel im mündlichen Examen, sinnvoll ist, solange inneruniversitäre Strukturveränderungen nicht in Sicht sind. Ansonsten aber plädiert er dafür, die Angst zuzulassen, das eigene Nicht-Wissen als notwendige Voraussetzung für neugieriges Lernen zu akzeptieren und den Reiz des Neuen stärker auf sich wirken zu lassen als scheinbar neunmalkluge Seminarnachbarn. Ein Patentrezept gegen die Uni-Angst gibt es nicht, entscheidend und von jeder Hochschulabsolventin zu unterschreiben ist Wagners Schlußfazit, „bei allem Bemühen um ein sinnvolles Studium den Sinn des Lebens doch außerhalb der Universität zu suchen“. ch

Wolf Wagner, Uni-Angst und Uni-Bluff, Rotbuch Verlag, 12 Mark.

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