Rache und Rassenwahn

Der Schweizer Historiker Philippe Burrin rekonstruiert Ursachen und Vollzug der Hitlerschen Gewaltverbrechen an den Juden  ■ Von Peter Reichel

Seit langem beschäftigt die Holocaust-Forschung immer wieder die eine Frage: Ist die Ermordung der europäischen Juden einer Entscheidung Hitlers zuzuschreiben, seinen antisemitisch-rassistischen Wahnideen, gar einem von Anfang an verfolgten teuflischen Plan – oder war sie eher das Ergebnis ungeplanter antijüdischer Maßnahmen und der verhängnisvollen Dynamik des Zweiten Weltkrieges, einer Dynamik, die das zunächst und lange verfolgte Ziel der Vertreibung und Umsiedlung schrittweise radikalisierte und schließlich zum Völkermord führte? Vereinfacht und sprachlich unschön werden diese Deutungsvarianten auch als „intentionalistische“ und „funktionalistische“ Erklärung der „Endlösung“ bezeichnet. Zur ersten, stark auf Hitler und seinen Antisemitismus bezogenen Gruppe rechnet man Gerald Fleming, Eberhard Jäckel, Klaus Hildebrand und Ernst Nolte, zur zweiten Uwe Dietrich Adam, Martin Broszat und Hans Mommsen. Diese gehen von einer weitgehenden Planlosigkeit und „kumulativen Radikalisierung“ der Endlösung aus, wobei besonders Raul Hilberg die herausragende Rolle der Bürokratie betont und Arno Mayer im Scheitern des Rußlandfeldzuges den entscheidenden Faktor sieht.

Während den Intentionalisten die Überbewertung der Rolle Hitlers und seiner Rassenideologie vorgeworfen wird, müssen sich die Funktionalisten vorhalten lassen, daß sie ins andere Extrem tendieren, weil sie vor allem den Verlauf und die Kontingenz der Entscheidungen und Ereignisse betonen, Hitler aber vernachlässigen. Diese Kontroverse hat inzwischen einen etwas künstlichen und sterilen Charakter bekommen. Beide Argumentationen sind ja nur dann unvereinbar, wenn sie exklusiv verstanden werden.

Was liegt da näher, ihre Überspitzungen abzuschwächen und den Streit in einer Synthese aufzuheben? Saul Friedländer hat sie schon vor zehn Jahren gefordert und vorgezeichnet. Seiner Anregung ist jetzt der Schweizer Historiker Philippe Burrin gefolgt und vor kurzem auch der amerikanische Historiker Christopher R. Browning („The Path to Genocide“, Cambridge UP).

Wie viele Intentionalisten auch beginnt Burrin bei Hitler und mit Hitlers Antisemitismus. Und er zeigt, wie dieser sich – durch das Weltkriegserlebnis – zu einer allgemeinen Sündenbockideologie erweitert, mit der Hitler alle Übel der Welt erklärt. Politisch und strategisch gesehen, erscheint Burrin Hitlers „fanatischer Antisemitismus“ aber durchaus ambivalent. Hitler will die Juden loswerden. Aber wie? Seine Wahnvorstellung von der Gesundung und Rassenreinheit der Deutschen machte die Entfernung der Juden aus Deutschland unabweisbar. Zugleich bedeutete aber ihr Verbleib in Deutschland – oder seine Kontrolle über sie anderswo – ein Pfand, das er als Druckmittel gegen das internationale Judentum benutzen konnte. Sein Kampf galt ja dem Weltfeind und der Weltmacht des Judentums, dem internationalen jüdischen Kapital ebenso wie der „roten Internationale“ und der zersetzenden Macht des künstlerischen und intellektuellen Kulturbolschewismus.

Reaktionen des Auslandes und Rivalitäten zwischen den verschiedenen Machtgruppen im Inneren zwangen ihn in der Verfolgung seiner antijüdischen Maßnahmen wiederholt zu taktischen Rücksichten. Sie führten auch zu einer bürokratischen und insoweit technisch-rationalen Regelung der „Judenfrage“. Die zunehmende Diskriminierung der Juden zielte lange nicht – so Burrin – auf ihre physische Vernichtung, sondern auf ihre Entfernung aus Deutschland. Noch am Vorabend des Zweiten Weltkrieges konnten immerhin mehr als 200.000 Juden aus Deutschland und Österreich entkommen. Warum Burrin – der euphemistischen NS-Terminologie folgend – durchgängig von „Auswanderung“ statt von Vertreibung spricht, ist mir allerdings nicht einsichtig geworden.

Mit Kriegsbeginn veränderten sich die Bedingungen für die Lösung der „Judenfrage“. Einerseits kam Hitler seinem Ziel, alle Juden, zumindest alle europäischen Juden, in seinen Machtbereich zu bekommen, sichtbar näher. Andererseits veränderten sich die Perspektiven für eine territoriale Lösung beständig. Pläne, die Juden in den Distrikt Lublin zu deportieren oder gar nach Madagaskar, wurden ebenso schnell fallengelassen, wie sie entstanden waren. „Die Zeiten der Erfolge“, resümiert Burrin, trieben Hitler „jedenfalls nicht in Richtung Vernichtung.“

Noch nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941, als die Einsatzkommandos gegen die sowjetischen Juden, vor allem gegen die jüdisch-bolschewistische Intelligenz, mit bestialischer Brutalität vorgingen, weisen die Pläne und Richtlinien auf eine Zwangsumsiedlung gigantischen Ausmaßes hin. Himmlers Generalplan Ost sah die Vertreibung von über 30 Millionen Menschen aus Osteuropa vor, eine Zahl, in der die fünf bis sechs Millionen sowjetische Juden ausdrücklich enthalten waren. Die NS-Führung, so Burrin, konnte „gar nicht daran denken, mehrere Millionen Menschen innerhalb weniger Monate zu töten, und noch weniger konnte sie davon ausgehen, nach einem schnell gewonnenen Feldzug (mit dessen erfolgreichem Abschluß im Oktober man zunächst gerechnet hatte) das Massaker fortzusetzen. Wehrmacht, Ministerialbürokratie und Wirtschaft hätten das kaum akzeptiert.“

Auch die von Göring am 31.7.1941 unterzeichnete Vollmacht für Heydrich, alle Vorkehrungen zu treffen für eine „Gesamtlösung der Judenfrage“ im deutschen Einflußgebiet in Europa ist für Burrin noch nicht der definitive Ausgangspunkt für die Vernichtung der europäischen Juden. Die Annahme einer schrittweisen Radikalisierung erscheint ihm – zu Recht – viel plausibler. Mehrere Entwicklungen im Spätsommer 1941 mußten erst zusammentreffen: die von Hitler verfügte Kennzeichnung der deutschen Juden und ihre Deportation in den Osten, die sich verschlechternden Aussichten auf einen schnellen Sieg über die UdSSR und die mörderische Eskalation der Einsatzgruppen, die in ihre Massenerschießungen bald auch Frauen und Kinder einbezogen.

Erst jetzt sprach Hitler wieder von seiner ursprünglichen Prophezeiung und daß er Rache an den Juden nehmen würde im Falle des Scheiterns seines Ostfeldzuges. Im September 1941 dürfte Hitler seine Niederlage noch nicht für unausweichlich gehalten haben, aber mit einem Sieg noch vor Einbruch des Winters konnte er auch nicht mehr rechnen. „Er rächte sich“, so Burrin, „im voraus für die sich abzeichnende deutsche Niederlage an jenen, die er in seinem antisemitischen Wahn für die Schuldigen hielt; und dieses Rachewerk führte er dann um so erbitterter durch, je mehr sich seine Lage verschlechterte und er sich einem apokalyptischen Ende näherte.“

In der Verknüpfung verschiedener Handlungsaspekte und der Integration unterschiedlicher Positionen hat Burrin eine umsichtige und übersichtliche Darstellung der unmittelbaren Vorgeschichte des Holocaust vorgelegt und zugleich eine kenntnisreiche und plausibel argumentierende Rekonstruktion und Deutung einer bizarren und nur schwer verständlichen Entscheidungsbildung. Ein trotz oder besser: wegen der unüberschaubaren Holocaust-Literatur hilfreiches und lesenswertes Buch.

Der Historiker, so schreibt er in seinem Schlußwort, habe eine doppelte Aufgabe: das mehrdimensionale Geschehen „zu rekonstruieren und sein Wesen zu begreifen“. Das Monströse der Hitlerschen Gewaltverbrechen und die Heterogenität ihrer Ursachen und ihres Vollzuges würden sich aber jeder Reflexion, jeder einordnenden Deutung entziehen. Mit dieser Feststellung begnügt er sich. Das ist bedauerlich und unbefriedigend zugleich. Denn gerade um ein theoretisch reflektiertes Begreifen haben sich ja in den vergangenen Jahrzehnten Sozialphilosophen und Sozialwissenschaftler immer wieder in beachtlichen Beiträgen bemüht, von der „Dialektik der Aufklärung“ (1947) bis zur „Dialektik der Ordnung“ (1992).

Daß Burrin diese Deutungsversuche nicht in seine Schlußbetrachtung einbezieht, ist auch deshalb bedauerlich, weil in den aktuellen Debatten um die Modernität bzw. Modernisierung des NS-Staates (vgl. zuletzt N. Frei, „Wie modern war der NS“, in: Geschichte und Gesellschaft H. 3/1993) immer auch nach einer Erklärung, Einordnung und Bewertung des Holocaust gefragt wird – oder doch gefragt werden müßte. Zuletzt hat Zygmunt Baumann eindrucksvoll gezeigt, daß der Holocaust nicht – wie uns der westliche Mythos so gern glauben macht – einen Bruch der modernen Zivilisation darstellt, sondern eine Möglichkeit derselben. Die allgemeinen Grundlagen unseres zivilen Zusammenlebens sind auch die der Endlösung: rationale Organisation und funktionale Differenzierung.

Nicht die Auffassung von einer an sich bösen Mentalität der Deutschen, die ein dämonischer Volksverführer entfesselt habe, macht die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen begreiflich. Schon eher die Annahme, daß politische Akteure mit einem spezifischen kulturellen Programm in einer sozialen Organisation handelten, deren Verfahren Gewalt verhindern, aber eben auch ermöglichen können. Der Rassismus als Vernichtungs- und Verbesserungs- bzw. Züchtungsideologie war eine Form des social engineering und gehört durchaus zu den Fortschrittsutopien der industriegesellschaftlichen Moderne. Und dieses Programm in mörderischer Praxis umzusetzen war um so leichter, je rationaler, arbeitsteiliger und hierarchischer diese Praxis organisiert war. Doch ein weiteres Element mußte hinzukommen: die Dehumanisierung der Opfer.

Und hier – so Baumann – liegt das „scheinbare Paradox“ des antimodern-modernen Nationalsozialismus: Er denunzierte die Moderne und projizierte die Ängste der tatsächlichen oder vermeintlichen Modernisierungsverlierer „auf das Phantom einer jüdischen Rasse“, um ihr dann mit einer modernen Sozialtechnologie zu Leibe zu rücken. Die Juden, seit Jahrhunderten der Inbegriff des Fremden und Andersartigen, wurden mehr oder weniger zwangsläufig und buchstäblich zu einem gefährlichen Fremdkörper – in einer Welt, die die Natur (und die Nation) zur neuen politischen Religion gemacht hatte und beseelt war vom Glauben an Perfektion und quasiparadiesische Vollkommenheit, an eine allgemeine Volksgesundheit, an soziale Hygiene und rassische Homogenität. Ein Krebsgeschwür assimiliert man nicht, man kann es nur aus dem Volkskörper entfernen. Auch wenn also der NS-Staat aus einer Protestbewegung gegen die Moderne hervorgegangen ist, seine Rassenideologie und der Holocaust waren ein Produkt der Moderne. Erst sie hat ihn ermöglicht, erst sie schuf den Bedarf dafür und die Bedingungen, den Eroberungs- und Vernichtungskrieg sowie die Verfahren, die Gewaltverbrechen unbekannten Ausmaßes ermöglichten.

Philippe Burrin: „Hitler und die Endlösung. Die Entscheidung für den Völkermord“. Aus dem Französischen von Ilse Strasmann. S.Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1993, 208 Seiten, 36 DM

Peter Reichel ist Professor am Institut für Politische Wissenschaften in Hamburg.