„Mein Bruder hat Aids“

■ Bremer Angehörigengruppe trifft sich regelmäßig zum Austausch und zur gegenseitigen Unterstützung

„Den Nachbarn habe ich erzählt, daß mein Bruder eine Toxi- Plasmose hat. Das ist noch nicht mal gelogen, denn die hat er auch“, sagt Heike X. Die Wahrheit kann sie in ihrem kleinen Dorf nicht erzählen: Ihr Bruder ist an Aids erkrankt. Aids wird auch heute noch größtenteils mit Drogen und Homosexualität in Verbindung gebracht, und damit können viele Menschen nichtumgehen.

Einen Ort, wo niemand befremdet gegenüber dem Thema Aids reagiert, bietet die Angehörigen-Gruppe in den Räumen der Bremer Aids-Hilfe. Dort treffen sich zur Zeit zehn Mütter und Schwestern von HIV-Infizierten oder an Aids erkrankten Angehörigen. Hier können sie ihre Gefühle und Gedanken austauschen und Unterstützung holen. Die meisten sind bereits seit zwei Jahren dabei und treffen sich zweimal im Monat gemeinsam mit Birte Hartmann von der Aids- Hilfe und Marcus Kaminski vom Rat&Tat-Zentrum. „Ich finde hier Kraft“, sagt Kathrin Y., „wir sind nicht nur traurig, sondern lachen auch viel zusammen“, berichtet sie. Sie tauschen auch ihre Erfahrungen über Ärzte, Medikamente und Krankenhäuser aus.

„Ich habe einen Fortschritt gemacht“, erzählt Sabine Z. fröhlich. Die anderen fragen eifrig nach. „Ich habe es einer Bekannten erzählt. Und das war so eine Erleichterung!“ Die Gruppe habe ordentlich Druck gemacht, berichtet die ältere Frau, damit sie mal die Wahrheit über die Krankheit ihrer Tochter irgendjemand erzähle. Die Frauen kennen sich und rufen sich bei Problemen auch mal gegenseitig an. „Mich hat die Krankheit meines Bruders geprägt. Ich habe viel mitgekriegt davon, was das Leben ist“, sagt Anna H. Sie ist traurig darüber, wie wenig ihre anderen Verwandten sich mit der Krankheit und dem Tod ihres Bruders auseinandersetzen konnten.

Birte Hartmann von der Aids- Hilfe wundert sich nicht, daß noch keine Männer zu der Gruppe gefunden haben: „Männer haben es generell schwieriger, über ihre Probleme, ihre Gefühle zu reden.“ Aber auch manche der Frauen wurden geradezu von ihren Kindern und Geschwistern gedrängt, in die Gruppe zu gehen. „Meine Tochter wollte wohl, daß ich gut aufgehoben bin. Und sie hat recht gehabt“, erzählt eine Mutter.

Letztes Jahr hat sich die Gruppe über die Funktionsweise des Immunsystems unterhalten und überlegt, wessen Kind oder Geschwister wohl als erstes sterben würde. Zwei der Aids-Kranken leben inzwischen nicht mehr, aber auch nach dem Tod bricht die Auseinandersetzung mit Aids für die Angehörigen keineswegs ab. Sie haben das Bedürfnis, ihre Erfahrungen an die Öffentlichkeit zu tragen. Zum Beispiel über den teilweise katastrophalen Umgang der Ärzte mit der Krankheit. Ihr Wunsch ist es, daß eines Tages Aids als normale Krankheit akzeptiert wird. Vivianne Agena