„Gott wird uns nie vergessen“

Die Palästinenser in dem jordanischen Flüchtlingslager Al-Bakaa hoffen auf einen verläßlichen „Retter“, der sie nicht wieder im Stich läßt  ■ Aus Al-Bakaa Khalil Abied

Nennst du es ein Leben, von einem Flüchtlingslager in das nächste zu ziehen?“ – Abu Hassan beantwortet die Frage, ob das „Gaza- Jericho-Abkommen“ sein Leben verändern werde, mit einer Gegenfrage. In seiner Stimme schwingt eine Mischung aus Zorn und Bitterkeit.

Während wir uns unterhalten, serviert sein jüngster Sohn Farid aus einer Aluminium-Thermosflasche Kahwe Murra, den bitteren und starken arabischen Kaffee. In dem Wohnzimmer existieren außer zwei schmalen Matratzen und einem Teppich aus geflochtenen Plastikstreifen keine Einrichtungsgegenstände. An den Wänden hängen ein paar Familienfotos und eine Landkarte Palästinas mit dem Schriftzug: „Ich liebe meine Heimat.“

„Ich war acht Jahre alt, als im Jahr 1948 meine Heimat von der Weltkarte getilgt wurde“, erzählt Abu Hassan. „Meine Familie ist zuerst aus Minschiya geflohen.“ Das Städtchen liegt im israelischen Kernland in der Nähe von Tel Aviv. Nachdem jüdische Truppen in dem palästinensischen Ort Deir Jassin ein Massaker verübt hatten, sei seine Familie gemeinsam mit Zehntausenden Palästinensern nach Osten in die heutige Westbank geflohen. Abu Hassan und seine Eltern kamen nach Tulkarim nahe der Grenze zu Israel. Die Jahre dort seien furchtbar gewesen, erinnert er sich: „Viele Kinder starben an Unterernährung oder Krankheiten.“

Besonderen Groll hat Abu Hassan auf das damalige Verhalten der arabischen Regierungen: „Gott verdamme sie, die uns betrogen haben.“ Damals seien in den arabischen Hauptstädten große Reden gegen Israel geschwungen worden. „Die Befreiung Palästinas vom Zionismus“ durch die Araber sei eine Sache von ein paar Wochen, habe es damals geheißen. „Daraus sind nun 45 Jahre geworden“, seufzt Abu Hassan.

Als die Israelis 1967 im Sechstagekrieg die Westbank inklusive Ost-Jerusalem sowie den Gaza- Streifen und die Golan-Höhen eroberten, mußte Abu Hassan wiederum fliehen. Mit seiner Ehefrau und einem zweijährigen Kind überquerte er den Jordan. Gemeinsam mit Tausenden anderen palästinensischen Flüchtlingen wurden sie von jordanischen Soldaten in dem Lager Al-Karamah im Jordantal versammelt. Aber auch dort fanden Abu Hassan und seine Familie keine Ruhe. Als 1968 israelische Truppen den Jordan überschritten, um die von Jordanien aus operierenden palästinensischen „Feddayin“ zu zerschlagen, bedeutete das erneut Flucht. Die israelischen Soldaten wollten die Keimzelle des bewaffneten palästinensischen Widerstands zerstören und beschossen Al-Karamah mit Granaten.

Abu Hassan und seine Familie landeten in dem Lager Al-Bakaa, 20 Kilometer von der jordanischen Hauptstadt Amman entfernt. In dem zwölf Quadratkilometer großen Areal leben heute fast 120.000 Menschen. Obwohl das Lager nun schon ein Vierteljahrhundert existiert, mangelt es dort an fast allem. Die Wasserversorgung ist ebenso unvollständig wie das Gesundheitssystem. Seit Anfang der siebziger Jahre leben die Bewohner nicht mehr in Zelten und Verschlägen, sondern in festen Häusern, die das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge der UNRWA errichtet hat. Zwischen acht und fünfzehn Personen teilen sich die Drei- oder Vierzimmerwohnungen. Offiziell ist es verboten, in dem Lager weitere Gebäude zu errichten. Aber die jordanischen Behörden drücken beide Augen zu, wenn das eine oder andere Haus durch einen Anbau erweitert oder aufgestockt wird.

„Je mehr Zeit verstreicht, desto schwieriger wird die Verwirklichung unseres Traumes vom eigenen Staat“, meint Abu Hassan. Daran seien nicht nur die Israelis schuld, sondern auch die arabischen „Brüder“, die so manches Palästinenserleben auf dem Gewissen hätten. Abu Hassan kann eine lange Liste von Akten des arabischen Verrats an den Palästinensern aufzählen. An der Spitze steht der „Schwarze September“ im Jahr 1970. Damals töteten Soldaten des jordanischen Königs innerhalb von zehn Tagen fast 10.000 Palästinenser. Danach kamen der Bürgerkrieg im Libanon und die israelische Invasion Beiruts von 1982. In den libanesischen Palästinenserlagern Sabra und Schatila wurden damals Tausende Palästinenser massakriert. Für diese Taten macht Abu Hassan die christlichen libanesischen Falangisten und die schiitische Amal-Miliz verantwortlich.

Der Beginn der Intifada, des Aufstands der Palästinenser in den besetzten Gebieten, im Dezember 1987 weckte in Abu Hassan wie bei den meisten Palästinensern Hoffnung auf eine baldige Befreiung seiner Heimat. „Ich hatte wieder den Glauben gewonnen, daß unser Volk niemals aufgeben wird, seine Rechte einzufordern“, erinnert er sich. Doch in den inzwischen fast sechs Jahren des Aufstandes habe sich gezeigt, daß „Steine gegen Maschinengewehre nichts ausrichten können“.

Eine andere Hoffnung, die Abu Hassan bald wieder zu Grabe tragen mußte, waren Saddam Hussein und dessen angebliche „eine Million Kämpfer“. Hussein hatte nach der Invasion Kuwaits im Sommer 1990 großmundig angekündigt, das „palästinensische Problem“ zu lösen. Diese Parolen hätten bei ihm wie bei zahlreichen Palästinensern Zustimmung ausgelöst. Die anschließende Niederlage Saddam Husseins hatte für die Palästinenser schwerwiegende wirtschaftliche Folgen. Die Golfstaaten und Saudi-Arabien revanchierten sich für die proirakische Position der meisten Palästinenser und der PLO mit der Sperrung von Geldern und der Vertreibung von 400.000 Palästinensern aus Kuwait. Wie viele seiner Landsleute begann Abu Hassan, sich nach einem „Retter“ umzusehen, der zuverlässiger ist als die bisherigen. Heute sagt er: „Gott wird uns Palästinenser nie vergessen.“

Über das „Gaza-Jericho-Abkommen“ kommt bei ihm keine Begeisterung auf. „Wir müssen vernünftig sein. Mehr können wir in dieser Situation nicht bekommen.“ Daran, mit seiner Familie nach Jericho oder in den Gaza- Streifen umzuziehen, denkt er nicht: „Selbstverständlich träume ich davon, in meine Heimat zurückzukehren. Aber mein Zuhause ist in Jaffa und nicht in der Westbank.“

„Ein Quadratmeter in Palästina ist besser als ein komplettes Paradies im Exil“, mischt sich sein Sohn Farid in das Gespräch ein. „Ich bin davon überzeugt, daß der Kampf im Exil nichts nützt. Wir müssen nach Gaza oder Jericho gehen und von dort aus weiterkämpfen.“ Farid hat im vergangenen Jahr sein Studium der Betriebswirtschaft beendet. Seitdem gehört er zu den acht- bis zehntausend Arbeitslosen im Lager. In Jordanien fühlt er sich unterdrückt: „Wenn ich hier eine Veranstaltung zum Thema Palästina organisieren will, brauche ich eine Genehmigung vom Geheimdienst.“

„Die Männer seien von Gott gegrüßt.“ Während der mit einer weißen Galabiya und einer schwarz- weißen Keffiya bekleidete Besucher den Raum betritt, spricht er die traditionelle Begrüßungsformel. „Jetzt kannst du die Meinung eines echten Gegners des Abkommens hören“, stellt Abu Hassan den Neuankömmling lachend vor. Abu Ahmad trägt seit einer Pilgerreise nach Mekka die Ehrenbezeichnung Hadschi und hat in Jordanien die dortige Branche der Muslimbrüder mitbegründet. Auf das „Gaza-Jericho-Abkommen“ angesprochen, gerät er in Sekundenschnelle in Rage. „Ich glaube nur an das Wort Gottes und nicht an das, was Clinton oder Arafat sagen“, brodelt es aus ihm heraus. „Gott hat uns gesagt, es ist unmöglich, mit den Juden Frieden zu schließen. Uns gehört ganz Palästina, und niemand darf unseren Boden verkaufen. Jeder, der unser Land verrät, ist ein Ketzer, den Gott bestrafen wird.“ Damit ist für Abu Ahmad die Diskussion zu dem Thema erledigt.

„,Der Islam ist die Lösung‘“ war für viele frustrierte junge Palästinenser eine verlockende Parole“, meint Samer. Der dreißigjährige Lehrer zählt in Al-Bakaa zu den Intellektuellen. „Die Muslimbrüder haben den Menschen eine religiöse Lösung für alle ihre Probleme angeboten, und viele haben ihnen geglaubt.“ In der Frage des „Gaza-Jericho-Abkommens“ hätten sie aber längst nicht so viele Anhänger wie erwartet. Für die Islamisten sei es ein Schock gewesen, als sich an ihrer gegen das Abkommen gerichteten Demonstration am 13. September nur vierhundert Menschen beteiligten. „Viele Leute empfanden es als Provokation, daß die Gegner des Abkommens Bilder von Arafat verbrannt haben.“ Zwar kritisierten viele Bewohner des Lagers die PLO-Führung in Tunis als selbstherrlich oder korrupt, der Vorwurf des Verrats ginge ihnen jedoch zu weit.

Bei den letzten Wahlen im Jahr 1989 bekamen die Islamisten in Al- Bakaa die Mehrheit der Stimmen. Aber in den verstrichenen vier Jahren hätten viele Einwohner „die Wahrheit über Islamisten“ entdeckt, meint Samer. „Die Leute haben gemerkt, daß die islamistischen Politiker sich kaum von denen anderer Parteien unterscheiden.“ Genau wie diese hätten die Islamisten keine konkreten Lösungen anzubieten.

In Samers bescheidenem Haus haben sich fünf junge Männer eingefunden, um Karten zu spielen und über Politik zu reden. Der 28jährige Khalid ist Computertechniker, aber arbeitslos. Gegen das Abkommen hat er zahlreiche Vorbehalte, aber jene Palästinensergruppen, die es ablehnen, können bei ihm auf keine Sympathien hoffen. Den Grund dafür kann er in einem Satz zusammenfassen: „Die haben ihre Hauptquartiere in Damaskus.“ Khalid glaubt nicht, daß sich die syrische Führung um die Rechte der Palästinenser schert, vielmehr instrumentalisiere sie Gruppen wie die „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (PFLP), um der PLO zu schaden. „Wir Palästinenser sind sehr empfindlich, wenn sich Fremde oder auch ,arabische Brüder‘ in unsere Angelegenheiten einmischen“, erläutert er seine Skepsis dem „Bruderland“ Syrien gegenüber.

Auf die Frage, ob sie planten, in ihre Heimat zurückzukehren, lachen alle sechs Anwesenden. „Die armen Menschen werden nicht lange zögern und so schnell wie möglich nach Gaza oder Jericho gehen“, meint der Bauarbeiter Jussuf, „aber wer ein bißchen was zu verlieren hat, wird sehr gründlich darüber nachdenken, was er tut.“ Zahlreiche Palästinenser haben es in Jordanien zu bescheidenem oder großem Wohlstand gebracht, den sie nicht zugunsten einer unsicheren Existenz in Palästina aufgeben wollen. Unter zustimmendem Nicken der anderen formuliert Jussuf seine Vorstellung von einer Zukunft als Palästinenser: „Das beste für uns wäre, wenn wir uns frei zwischen beiden Ufern des Jordans bewegen könnten. Schließlich haben wir auf beiden Seiten eine gemeinsame Geschichte. jetzt sollten wir an die gemeinsame Zukunft denken.“