Nachschlag

■ Wawerzinek-Lesung im „studio im hochhaus“

So eine Lesung in Hohenschönhausen, viertes Hochhaus von links, beginnt zunächst mal eine halbe Stunde später als angekündigt. Bis auch der letzte Radfahrer ins „studio“ gefunden hat, vergnügt man sich in der urgemütlichen Glasbausteinkneipe in Hochhaus III, wo man mit „Love me tender“ empfangen, mit „Manchmal möchte ich schon mit dir“ über Wasser gehalten und mit „17 Jahr, blondes Haar“ johlend verabschiedet wird.

Daß die Qualität des Bieres dann von schlabbrigem Schultheiss zum „kräftig-würzigen“ Bärenpils des „studios“ hochsteigt, berührt weniger als dieser von 24 darauf lastenden Stockwerken zerdrückte Galerieraum mit dem antiseptischen Charme eines Wartezimmers. Wer Glück hat, trifft vielleicht wieder auf jenen Grazer Redakteur, der mit seiner Literaturzeitschrift gerade nach Berlin umgezogen ist, um hier wichtig-wichtig einer „ganz bestimmten Form der Literatur“ nachzuspüren. Döring, Faktor und Papenfuß wollte er für sein Heftchen gewinnen, aber die haben ja zum Teil noch nicht mal Telefon. Also steht er jetzt in Hohenschönhausen, süffelt Rotwein aus der Literpulle von Kaiser's für 3,49 und spinnt seine Fäden vom Wawerzinek-Freund zur Galerieleiterin.

Und dann ist er endlich still, der Grazer. Wawerzinek (mit Betonung auf dem i) liest, zunächst gemächlich, aber mit bereits hochgekrempelten Ärmeln. Scheinbar hospitalisiert wie die Eisbären im Kölner Zoo, federt der Hintern in regelmäßigen Abständen aus dem Plastikklappstuhl, bis zum absehbaren Moment des endgültigen Abhebens. Der untersetzte Mann zwischen Stirnglatze und Tuchschuhen wird Stimmenimitator, Märchenerzähler, Clown und Derwisch, der Tanz auf, am und um den Stuhl herum zur Revuenummer. „Meine Eltern waren mir nie Handtuch, wenn ich in Schweiß geriet“, wiederholt er dreimal in verschiedenen Tonlagen, und im sich steigernden Gelächter geht die kunstvolle Komposition dieses Bildes fast unter. Es entstammt dem Manuskript „Mehr als zuviel Gesicht hat einer nicht“, das, wie schon sein Roman „Nix“ und der Prosaband „Moppel Schappiks Tätowierungen“, seine Kindheit verhandelt. Es geht um Mama, Papa, die Gemüsehändlerin und den „sauren Hering jeden Freitag um 13 Uhr“. Während Wawerzinek da vorne wispert und gurgelt, stottert und radebricht, wuchert der Text fröhlich weiter, jeder Kosakenzipfel erhält noch ein Zitronenhäubchen.

Der Grazer auf der Suche nach der „ganz bestimmten Literatur“ wird es beim Schubladengegner Wawerzinek schwer haben. Haben die Kritiker „sich einmal darauf eingeschossen, einen Autoren wie eine Mohrrübe zu behandeln, dann hast du es als Gurke schwer“, hat er einmal gesagt. Jetzt gurkt er schnurstracks zur Bar. Nebenan ist die Musikbox inzwischen beim „Griechischen Wein“ angekommen. Der Abend hat sich gelohnt, nicht nur wegen Udo Jürgens. Bernd Imgrund