Begreifbare Welten

■ Dreidimensionale Folien aus dem Computer für den Unterricht in Blindenschulen

Was unterscheidet eine dorische von einer ionischen Tempel- Säule? Wo innerhalb der GUS liegt das Krisengebiet Georgien? Wer sehen kann, dem verhilft der Blick ins Schulbuch, auf ein Dia oder auf des Lehrers Tafelskizze fix und unkompliziert zu mehr Wissen. Blinde und sehbehinderte Schüler hingegen brauchen tastbare Vorlagen, um sich Zwei- und Dreidimensionales im Unterricht zu vergegenwärtigen. Vier InformatikstudentInnen der Universität Wien, unter der Federführung von Ruth Grünfelder, haben als Praktikumsarbeit an der Elektrotechnischen Fakultät jetzt ein allgemeinverständliches Computerprogramm entwickelt, das Blindenschulen schneller und billiger zu haptischen Lehrmitteln verhelfen kann. Sein Name: „Relief“.

Mit Relief ergatterte das Wiener Informatiker-Quartett im Wettbewerb um den Deutsch- Österreichischen Software-Hochschulpreis einen ersten Platz – in der 1993 erstmals ausgeschriebenen Sonderrubrik „Software für Behinderte“. Die Belohnung: 5.000 Mark aus den Händen des deutschen Wissenschaftsministers Rainer Ortleb bei der Preisverleihung in Berlin Ende September.

Die computergestützte Umwandlung von Texten in Blindenschrift stellt heute kein besonderes Problem mehr dar. Bei der Umsetzung von Zeichnungen in Tastfolien hingegen mußte man entweder geringe Qualität oder aufwendige Herstellungsverfahren in Kauf nehmen: Besonders komplexe Preßvorlagen mußten umständlich aus Holz, verzwirbeltem Draht, Lötzinn und anderen Materialien zusammengebastelt werden. Diese Zeiten wären vorbei, wenn das Relief-Programm in Serie ginge: Jeder Laie kann damit per Maus auf dem Bildschirm beispielsweise eine Landkarte zeichnen – und sie mit Hilfe der zugehörigen Fräse und Presse innerhalb von fünf Minuten in ein Kunststoffmodell verwandeln.

Besondere Elemente im Zeichenprogramm von Relief neben der Brailleschrift: Zahlreiche Linienarten und -stärken, mit denen leicht unterscheidbare „Fühlmuster“ dargestellt werden können; sieben verschiedene Höhenebenen; eine Bibliothek mit Standardsymbolen und -bildelementen wie elektrotechnische Schaltzeichen für den Physikunterricht und Koordinatenkreuzen für die Mathestunden. Ein spezieller Service: Der zeichnende Lehrer wird automatisch gewarnt, wenn er am Bildschirm zu kleine oder zu nah beieinanderliegende Elemente entwirft. Was ein Blinder auf dem Plastikmodell später nicht mehr ertasten könnte, verschwindet einfach wieder vom Monitor.

Nächster Arbeitsschritt: Relief wandelt die grafischen Daten in eine Steuerdatei für eine numerisch gesteuerte Fräse um. Die Fräse arbeitet dann die Abbildung als Negativform aus einer feinen Preßspanplatte heraus. Diese Platte wiederum wird als Modell in eine handliche, aktenkoffergroße Vakuum-Tiefziehpresse eingelegt: Thermofolie drauf, Deckel zu, erhitzen, abkühlen – fertig.

Rein technisch ist die Verknüpfung von Computergrafik mit Fräs- Befehlen kein Hexenwerk. Auf Autocat-Basis existieren solche Programme bereits – kostspielig und höchst kompliziert. Das Verdienst der Wiener InformatikerInnen ist, ein von Computer-Laien bedienbares und auf simpelsten Terminals einsetzbares Programm geschrieben zu haben, das über eine Vielzahl blindenspezifischer Besonderheiten verfügt. Die NC- Fräse und die als Prototyp entwickelte Tiefziehpresse stehen derzeit im österreichischen Bundes-Blindeninstitut: Dort können Disketten mit Grafikvorlagen abgegeben und die fertigen Tastfolien wieder abgeholt werden.

Der Deutsch-östereichische Hochschul-Software-Preis soll dazu beitragen, daß innovative und nützliche Ideen von StudentInnen nicht an den Universitäten versickern. Er wird seit 1990 von den Wissenschaftministerien beider Länder, der Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft und Technik und der Technologie-Vermittlungsagentur Berlin e.V. ausgeschrieben – und organisatorisch von der in Karlsruhe ansässigen Akademischen Software Kooperation (ASK) betreut.

Sechs von den diesmal 185 eingesandten Programmen waren für Behinderte geschrieben. Die Juroren gaben den Preis an das Relief- Team, weil ihr Programm am ausgereiftesten war. Dennoch arbeiten die Wiener StudentInnen in Rückkopplung mit Blindenlehrern an der Optimierung ihrer Software weiter: Künftig soll es möglich sein, Fotos, Skizzen und andere Vorlagen als Zeichenhilfe in den Bildschirm-Hintergrund einzuscannen. Das Programm taugt nicht nur für den Schulunterricht. Mit seiner Hilfe kann man Blinden den Alltag außerhalb vertrauter Gebäude erleichtern: Neue Fußwege können auf dem Bildschirm aus einem Grundarsenal von Norm-Kreuzungen, Ampel-Signalen und Straßen-Typen individuell zusammengesetzt werden. Abgespeichert, ausgefräst, tiefgezogen – fertig ist der „begreifbare“ Orientierungsplan für den Weg zum Supermarkt. Annette Wagner