Gutachter prophezeien den Aufschwung

Konjunkturforscher sind optimistisch: Die deutsche Wirtschaft soll 1994 wieder um 1,5 Prozent wachsen / Die Zahl der Arbeitslosen wird dagegen weiter steigen: Bald ist jeder Zehnte ohne Job  ■ Von Erwin Single

Berlin (taz) – Die wirtschaftliche Talfahrt soll zu Ende gehen. Das zumindest sagen die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute voraus. Fünf der sechs Konjunkturforscher glauben, die deutsche Wirtschaft werde im kommenden Jahr wieder um 1,5 Prozent wachsen. Nach dem vorab gekannt gewordenen Herbstgutachten, das heute in Bonn offiziell vorgestellt wird, soll das Wachstum im Westen ein Prozent, im Osten sogar sieben Prozent betragen. Für dieses Jahr rechnen die Gutachter mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 0,5 Prozent.

Positive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt wird der prognostizierte Aufschwung dennoch nicht haben. Im Gegenteil: Die Zahl der Arbeitslosen soll den Wirtschaftsinstituten zufolge im Westen noch einmal um 340.000 auf 2,6 Millionen Menschen anwachsen. In den neuen Ländern wird mit einer geringfügigen Zunahme von rund 20.000 Arbeitslosen auf insgesamt 1,17 Millionen gerechnet. Damit werden 1994 3,8 Millionen ohne Beschäftigung sein – das entspricht einer Arbeitslosenquote von 8,9 Prozent (West: 8,4; Ost: 15,5).

Doch Prognosen zählen nicht gerade zu den Stärken von Wissenschaft und Ökonomie. Angesichts der derzeit anrollenden Massenentlassungwelle scheinen die Konjunkturapostel, wie schon so oft, die miese Lage wieder einmal schönzufärben. So wollte sich denn auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) dem Kollegenkreis aus dem Institut für Wirtschaftsforschung (IW), dem Kieler Institut für Weltwirtschaft, dem Hamburger HWWA, dem Essener RWI und dem IWH Halle nicht anschließen. Die DIW-Forscher erwarten 1994 noch einmal einen Rückgang des westdeutschen Bruttoinlandsprodukts – und zwar um 0,5 Prozent. Für den Osten wird ein Plus von nur fünf Prozent vorausgesagt.

Die fünf übrigen Insitute begründen ihren Optimismus damit, daß sich zwei wesentliche Rahmenbedingungen erheblich verbessert haben: Die Lohnabschlüsse liegen mit durchschnittlich drei Prozent noch unter der Inflationsrate, also wird es in diesem Jahr zu sinkenden Reallöhnen kommen. Die Wirtschaftsforscher, die in der Vergangenheit die Lohnsteigerungen immer für zu hoch erklärten, werteten die maßvollen Abschlüssen als „Wende“. Und auch die Hochzinspolitik der Bundesbank scheint zu Ende zu sein: Die Währungshüter haben die Leitzinsen zum siebten Mal in diesem Jahr gesenkt, die damit wieder auf dem Stand von vor der Wende angelangt sind. Das dürfte auch den deutlich gesunkenen Außenhandel beflügeln: Nach den Prognosen sollen die Ex- und Importe jeweils um 3,5 Prozent zunehmen. Außerdem, so die Wissenschaftler, sei die Inflation gestoppt: Im Westen wird sie von derzeit vier auf drei Prozent zurückgehen, im Osten von 8,5 auf 4,5 Prozent.

Wie jeden Herbst bekommt jedoch auch die Bundesregierung wieder genügend Stoff zum Nachdenken. Das „Einsetzen eines Aufschwungs“ bedeute noch lange nicht, daß die wirtschaftspolitischen Weichen richtig gestellt seien: „Der Kern des Standortproblems ist“, warnen die Forscher, „daß die Politik Gefahr läuft, Unternehmer wie Arbeitnehmer zu überfordern und damit die Bedingungen für Wachstum zu verschlechtern.“ So zögerten die Investoren trotz umfangreicher Subventionen, Betriebe im Osten zu errichten. Eine Ohrfeige gab es auch für den Kassenwart: Die Lage der Staatsfinanzen sei „äußerst prekär“. Trotz bekundeten Sparwillens werde die Staatsquote (Ausgaben im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt) 1994 auf 51,5 Prozent steigen – gegenüber 45,5 Prozent vor der Vereinigung.