■ Die Grünen tun sich schwer mit herausragenden Personen
: Meister des Besenstiels

1994 ist auch für die Grünen ein wichtiges Jahr. Alles spricht dafür, daß sie sich in den Ländern stabilisieren, zum Teil den Status einer „Kleinpartei“ hinter sich lassen, sie können durch Eintritt in weitere Landesregierungen und stärkere Berücksichtigung bei Bundesratsvoten die Voraussetzungen für einen ökologischen Umbau verbessern, und sie werden als handlungsfähiger politischer Faktor in Bonn gebraucht. Sei es zum Mitregieren in einer rot-grünen(-gelben) Koalition, die während der letzten Monate schon häufiger in demoskopischen Momentaufnahmen die Mehrheit fand (auf die man also, für alle Fälle, vorbereitet sein muß), sei es als wichtigste Oppositionspartei, falls die SPD in die Regierung einer großen Koalition eintritt oder während des Auslaufmodells einer letzten Kohl-Regierung auf eine solche Konstellation, sagen wir 1996, hinarbeitet.

Das Wahlprogramm für die Bundestagswahl ist in Vorbereitung. Es mag gut oder weniger gut werden, absehbar ist schon heute, daß es handwerklich besser ausfällt als früher: schwerpunktorientiert, präziser, auf den Punkt gebracht und den Notwendigkeiten eines Wahlprogramms entsprechend. Mindestens so wichtig sind die Personalfragen, und sie werden durch die Kandidatenaufstellungen in den kommenden Wochen und Monaten entschieden. Zwar müssen die WählerInnen noch zustimmen, und sie legen fest, wie viele Abgeordnete von einer Partei zum Zuge kommen. Wer Abgeordneter wird, entscheidet aber allein die Partei. Das gilt im Extrem, wo – wie bei den Grünen – nur ListenkandidatInnen gewählt werden.

Der Bundestag steht im Spannungsverhältnis zwischen den dezentralen Entscheidungen über KandidatInnen, die mit allem möglichen, nur manchmal wenig mit „Bonn“, zu tun haben und den Anforderungen dieser zentralen Institution, die zwar auch eine „Alkoholikerversammlung“ (Joschka Fischer) ist und den Aufstieg von Kohl nicht verhindert hat, deren Professionalitätsstandards die Grünen nach 1983 aber auch unter erheblichen Lerndruck gesetzt haben. Immer geht es um die Frage, wie weit lokale und überregionale Rationalität vereinbar sind.

Die Grünen haben beim Start im Bundestag viel Glück gehabt, sie stellten KandidatInnen auf, die lange Jahre mit den Grünen identifiziert wurden: Kelly, Schily, Fischer, Beck-Oberdorf, Nickels, Schoppe, Kleinert, Vollmer. Natürlich half ihnen auch die Aufmerksamkeit, die die Medien in den ersten zwei Jahren für die neue Bundestagsfraktion aufbrachten. Aber diese Abgeordneten waren auch politische Talente in dem Sinne, wie sie die neuere Soziologie politischer Eliten beschreibt. Mit spezifischem Sachverstand in ein bis zwei Bereichen sicherlich, vor allem aber mit Fähigkeiten politischer Kommunikation und Vermittlung.

Die Grünen glauben gewiß nicht an die leninsche Annahme, eine Köchin sei als Politikerin prinzipiell ebenso gut geeignet wie jede/r andere. Ihre Neigungen gehen zu Fachleuten (merkwürdiges Paradox dieser doch stark politisierten Partei) oder zu „verdienten“ Partei- bzw. BasisarbeiterInnen – beides vom heutigen Anforderungsprofil an professionelle Politik gleich weit entfernt.

Das Kommunikations-Kapital wahrgenommener PolitikerInnen liegt in der ständig zu beweisenden Fähigkeit, beim Kommunizieren öffentliches Interesse zu finden, ebenso, wie im Aufmerksamkeitswert, den allein schon ein politisch erworbener Name verbürgt.

Problematischer noch als der Glaube an Fachleute oder local heros ist bei den Grünen die alte Besenstiel-Ideologie, die im Aufwind günstiger Wahlkonjunktur wieder aufzuleben scheint. Danach ist es egal, wen man ins Rennen schickt – es könne auch ein Besenstiel sein. Da man im Westen keine amtierenden Bundestagsabgeordneten hat, kann man sich auch in einer Stunde Null wähnen: alles scheint möglich, alles scheint gleich.

In Wahrheit ist es die Stunde der lokalen Rationalität, bei der – ganz unbeschwert von Anforderungen des Zentralparlaments – Antipathien, Seilschaften und das bargaining zwischen Lokalmatadoren (bzw. derer, die für sie die Verhandlungen führen) ausgelebt werden können. Man liest mit Erstaunen, daß von den wenigen Bonn-Erfahrenen, die überhaupt noch zur Verfügung stehen, einige bei der Kandidatenaufstellung mit großen Problemen zu kämpfen haben. Drei – sicherlich nicht alle Personen berücksichtigende – Beispiele für Grünen-PolitikerInnen, die seit Jahren weithin bekannt sind und denen es nun passieren kann, durch den Rost lokaler Rationalitäten zu fallen:

Antje Vollmer, die neben Joschka Fischer heute bekannteste Grüne, stark beachtete Sprecherin der Bundestagsfraktion, mit Ausstrahlung in Bereiche, die den Grünen sonst weitgehend verschlossen sind, publizistisch bzw. massenmedial präsent und gefragt – ihre Nominierung überschreitet die Toleranzgrenze „ihres“ Landesverbandes.

Hubert Kleinert, ein geschickter Debattenredner, mit Standfestigkeit im parlamentarischen Getriebe, bewährt im Fraktionsmanagement, in Bonn mit politischer Orts- und Personenkenntnis präsent wie kaum ein zweiter – wie will eine neu aufzubauende Fraktion ohne solche Fähigkeiten auskommen?

Waltraud Schoppe, unvergeßlich in ihrem Direktangriff auf das Patriarchat, als sie im Bundestag den „alltäglichen Sexismus“ attackierte und damit ein neues Thema im Parlament durchsetzte, später eine Öffnung der Grünen zu Frauengruppen einleitend, die den Grünen eher fern standen – wie wird es ihr bei einer Basis ergehen, die jüngst schon ihren erfolgreichsten Landespolitiker mit bundesweiter Ausstrahlung, Jürgen Trittin, bei der Kandidatenaufstellung zur niedersächsischen Landtagswahl fast gekippt hätte?

Ich habe Schwierigkeiten, mir vorzustellen, wie die neue Bundestagsfraktion produktive Vielfalt ohne Antje Vollmer, effizientes Fraktionsmanagement ohne Hubert Kleinert, frauenpolitische Glaubwürdigkeit ohne Waltraud Schoppe realisieren will. Drei Beispiele, drei Kriterien. Die Grünen sind noch immer die armen Verwandten, sie haben nichts zu verschenken. Nach allem, was sie in ihrer Geschichte an Verbrauch einer letztlich doch dünnen bundespolitischen Personaldecke schon hinter sich haben, sollte es damit langsam genug sein.

Licht in das Hinterzimmer- Dunkel der Kandidatenaufstellung zu bringen, ist ein altes Ziel der Demokratisierung von Parteien. Dazu muß es erlaubt sein, sich vorher und von außen „einzumischen“. Die Grünen als Ganzes – und das heißt vor allem: ihre großen Landesverbände – müßten doch in der Lage sein, mehr Gesichtspunkte zu berücksichtigen als die einer bloß lokalen Rationalität. Die ärgsten Gegner der Grünen, sagt man, sind sie selbst. Auch sie selbst nur können diese Behauptung widerlegen. Joachim Raschke

Der Autor ist Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Hamburg; die Grünen sind sein liebstes Forschungsobjekt, vor kurzem erschien beim Bund-Verlag ein Buch über Ursprung und Geschichte der Grünen Partei.