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"99 Prozent für die Atomindustrie"

■ Interview mit Rechtsanwalt Reiner Geulen, Klagevertreter gegen das Atommüll-Endlager Gorleben: Das Ergebnis der Energiekonsensgespräche ist kein Kompromiß, sondern ein Rückschritt für die Atomkraftgegner

taz: Soweit bisher bekannt ist, haben sich Ministerpräsident Schröder für die SPD und Umweltminister Töpfer für die Bundesregierung darauf geeinigt, daß bloße Zwischenlager für Atommüll für den sogenannten „Entsorgungsnachweis“ den das Atomgesetz vorschreibt, ausreichen sollen.

Reiner Geulen: Das wäre kein Kompromiß, sondern ein Rückschritt. Die Gegner der Atomkraft haben von Anfang an darauf hingewiesen, daß man Atomkraftwerke nicht genehmigen darf, wenn die Entsorgung nicht gesichert ist. Nach vielen Großdemonstrationen und Gerichtsentscheidungen, zum Beispiel gegen das Atomkraftwerk Brokdorf 1978, galten dann die sogenannten Vorsorgegrundsätze, die eine kurzfristige Zwischen- und eine definitve Endlagerung der radioaktiven Abfälle vorsahen. Sie gelten bis heute. Geplant wurde nur ein einziges Endlager, nämlich in Gorleben, das als gescheitert anzusehen ist. Die Konsequenz daraus soll nun sein, daß die Zwischenlager als Entsorgungsnachweis dienen: Das sind 99 Prozent Atomindustrie und ein Prozent Ausstieg.

Nach der bisherigen Rechtslage ist es nicht gelungen, auch nur ein einziges Atomkraftwerk stillzulegen, obwohl kein Endlager zur Verfügung steht. Der neue Konsens besteht doch bloß darin, diesen Mangel zuzugeben.

Damit gibt man aber auch zu, daß Atomkraftwerke nicht mehr weiterbetrieben werden dürften. Wir haben seit vielen Jahren gesagt, daß das Endlager Gorleben nur weiterkonzipiert wird und Milliardenbeträge verbaut werden, um den sogenannten Entsorgungsnachweis zu liefern. Die Bundesregierung müßte zunächst einmal zugestehen, daß ihr Entsorgungskonzept in vollem Umfang gescheitert ist. Statt dessen sagt sie jetzt, daß es eben auch ohne Endlager geht. Der atomare Abfall soll auf unbegrenzte Zeit in Deutschland provisorisch gelagert werden.

Offenbar wollen die Konsenspartner dafür das geltende Atomgesetz ändern.

Ja, aber das geht nur mit einer Mehrheit des Bundestages und der Zustimmung der Länderkammer. Denn natürlich geht das geltende Atomgesetz davon aus, daß der atomare Abfall endgültig gelagert werden muß.

Uneinigkeit herrscht bislang noch über die Laufzeiten der heute existierenden Atomkraftwerke. Die Regierung behaupet, das geltende Atomgesetz lasse keine Begrenzung zu.

Richtig ist nur, daß es keine zwingende, rechtliche Befristung von Betriebsgenehmigungen gibt. Aber Atomkraftwerke müssen zu jedem Zeitpunkt dem Stand von Wissenschaft und Technik genügen. Schon geringfügige Sicherheitmängel zwingen deshalb zur Rücknahme der Betriebsgenehmigung. Das gilt insbesondere für altersbedingte Schäden. Die Atomkraftwerke Stade und Würgassen zum Beispiel hätten wegen allseits bekannter Mängel dieser Art, etwa Haarrissen im Reaktordruckgehäuse, längst geschlossen werden müssen. Auch in dieser Hinsicht ist der vorgeschlagene Kompromiß ein Rückschritt, weil er den Eindruck erweckt, als könnten Atomkraftwerke rechtlich unbegrenzt lange betrieben werden. Das ist falsch, das Gesetz schreibt vor, daß sie abgeschaltet werden müssen, wenn sie unsicher sind.

Die Konsensparteien haben sich aber auch auf einen neuen Sicherheitsstandard geeinigt, dem neue Atomkraftwerke genügen müssen. Könnte dieser Standard auch auf die bestehenden Reaktoren angewandt werden?

Er müßte sogar darauf angewandt werden, denn er entspricht dem Stand von Wissenschaft und Technik. Wenn er gälte, müßten sämtliche deutschen Atomkraftwerke sofort geschlossen werden. Das Konsenspapier zieht diese Konsequenz jedoch nicht, es will nur den Weg ebnen für die Zulassung neuer Atomkraftwerke. Das ist eine Scheindiskussion wie auch die Diskussion um das Endlager Gorleben und die Plutonium- Brennelement-Fabrik in Hanau. Beide werden nicht in Betrieb gehen, in ganz Deutschland wird kein neues Atomkraftwerk mehr gebaut. Für die Atomkraftgegner bedeutet dieser Kompromiß nichts Gutes, sie gewinnen nichts, im Gegenteil: Die Festschreibung und Verewigung der Betriebsgenehmigung für Atomkraftwerke und die Relativierung des Entsorgungsnachweises sind schwerwiegende Rückschritte, die niemand hinnehmen sollte.

Sie führen seit den siebziger Jahren Prozesse gegen Genehmigungsbehörden und die Atomindustrie. Was raten Sie nun den Atomkraftgegnern?

Ein Kompromiß, der gar keiner ist, kann nicht akzeptiert werden. Es bleibt deshalb bei den Positionen, die bisher die Diskussion bestimmt haben: Ein Endlager in Gorleben ist nicht möglich, aus der Plutoniumwirtschaft muß sofort ausgestiegen werden, sukzessive, aber absehbar rasch müssen die existierenden Atomkraftwerke stillgelegt werden.

Schröders und Töpfers Kompromiß könnte die Rechtsposition der Atomkraftgegner ändern. Immerhin ist es bisher gelungen, vor Gericht bestimmte Sicherheitsauflagen durchzusetzen.

Auch durch einen neuen Energiekonsens werden bestimmte Dinge nicht zur Disposition gestellt. Das AKW Mülheim-Kärlich zum Beispiel ist vor fünf Jahren aus Sicherheitsgründen geschlossen worden. Daran können Politiker nichts ändern, da können die beschließen, was sie wollen. Auch sonst zeigt sich nur, daß die Atomkraftgegner recht gehabt haben mit ihrer Behauptung, Atomkraftwerke seien unsicher und die Endlagerung der Abfälle sei ungeklärt. Aber der Kompromiß bedeutet nun, daß wir damit leben sollen, daß unsichere Zwischenlager die Endlagerung ersetzen, daß die unsicheren Atomkraftwerke nicht in überschaubaren Zeiträumen stillgelegt werden, sondern ihre Betriebsgenehmigung fortgeschrieben und verewigt wird. Das ist nicht hinnehmbar.

Fragen: Niklaus Hablützel

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