„Kind von Ratten angefressen“

Berlin, der Müll und das Umland: Eine Ausstellung im Café Campus an der Technischen Universität / StudentInnen erforschten, was Geschichtsprofs vernachlässigen: Umweltgeschichte  ■ Von Winfried Sträter

Angefangen hat es mit einem klassenbewußten sozialdemokratischen Bürgermeister, der die Interessen der Arbeiter in seiner kleinen Stadt vertrat. Auf der Suche nach Arbeitsplätzen für sie ließ er ein riesiges Bruchgelände für Berlin als Deponie ausweisen. Eine Reihe von Arbeitern kam dadurch in Lohn und Brot. Einer hatte etwas dagegen: ein Kapitalist, dem die Deponie eine schöne Aussicht verdarb. Der Mann besaß eine riesige Baumschule, und er hatte sich eine Villa auf einem Hügel gekauft. Von seinem erhabenen Sitz aus konnte er wie ein mittelalterlicher Burgherr auf seinen Betrieb herabschauen. Die Deponie verdarb die Aussicht und beleidigte den Geruchssinn. Dem arbeiterfreundlichen SPD-Bürgermeister war es eine besondere Freude, daß er sich gegen den hochmütigen Großunternehmer durchsetzte. Der Geprellte erhielt den behördlichen Bescheid: „Es mag sein, daß für die allernächsten Anlieger... sich unangenehme Gerüche bemerkbar machen. Aber das ist nicht gesundheitsschädlich, daran gewöhnt man sich, wie an die Nähe einer chemischen Fabrik auch.“

1924/25 trug sich diese Geschichte der erfolgreichen Verteidigung von Arbeiterinteressen gegen ein Kapitalinteresse zu, 30 Kilometer westlich von Berlin: in Ketzin/Vorketzin. Ungeheure Mengen Berliner Mülls hat die Deponie seither geschluckt – von 1977 bis 1990 auch Hunderttausende Tonnen hochgiftigen Sondermülls. Vorketzin wurde zum Inbegriff für Müllskandal. Heute ist der Boden verseucht, giftige Stoffe sickern ins Grundwasser. Die ökologischen Schäden und die Gesundheitsgefahren sind noch nicht absehbar.

Berlin und sein Umland: Seit über hundert Jahren ist das eine leidige Müllgeschichte. Ein studentisches Projekt an der Technischen Universität (TU) hat sie systematisch aufgearbeitet und damit geschichtswissenschaftliche Pionierarbeit geleistet. Umweltgeschichte wird an den historischen Instituten in Deutschland bisher vernachlässigt. Im Studentenstreik 1988/89 entstand daher an der TU die Idee, die Entwicklung der Müllproblematik in und um Berlin zu erforschen. Nun präsentiert eine außerordentlich informative Ausstellung im TU-Café Campus die Ergebnisse des Projekts.

Seitdem Berlin Millionenstadt ist (um 1900 vier Millionen Einwohner), spuckt die Stadt so viel Müll aus, daß sie das Umland zu ihrem Müllschlucker gemacht hat. Anfangs kippten Fuhrunternehmer den Hausmüll ganz einfach irgendwo in die Umgebung. Als sich die Ortschaften dagegen wehrten, begann die Stadt seit den 1890er Jahren mit Polizeiverordnungen das Problem zu regeln. Berlin wurde mit einer Bannmeile versehen: Im Umkreis von 30 Kilometern wurde das Abladen von Müll aus Berlin verboten. Aber immer wieder fiel zuviel Müll an, mußte die Stadt neue Plätze suchen.

Berlin und der Müll: Das ist seit hundert Jahren aber auch eine Geschichte von Versuchen, mehr aus den Abfällen zu machen, als sie nur irgendwo in die Landschaft zu werfen. Von 1907 bis in die dreißiger Jahre gab es bei Nauen einen experimentierfreudigen Landwirt, der seine Ländereien mit Berliner Müll düngte. Sperrstoffe wie Konservendosen, Badewannen, Kinderspielzeug ließ er vor Ort aussortieren. Alles andere gab dem Boden Nährstoffe, so daß er mit seinen riesigen Feldern zum größten Gemüselieferanten Deutschlands wurde und zugleich zum größten Müllverwerter Europas. Als die Nazis jedoch den Müll sortierten, hatte er für die Bodendüngung keinen Wert mehr, das Experiment wurde eingestellt. Nicht viel besser erging es einer Reihe anderer Versuche. Getrennte Hausmüllsammlungen in Charlottenburg scheiterten im Ersten Weltkrieg an mangelnder Rentabilität. Auch das vielversprechende Verfahren des Ingenieurs Kurt Gerson blieb eine Episode: Er machte aus den Abfällen wiederverwertbare Müllwolle. Warum dies irgendwann in den dreißiger Jahren eingestellt wurde, ist noch unbekannt. Mit dem Löwenanteil seines Mülls verfuhr Berlin wie eh und je: Er wanderte auf diverse Kippen. Gemeinden, die sich frühzeitig und heftig gegen die Rolle als Müllschlucker wehrten, hatten häufig Erfolg damit. War allerdings die Kippe erst mal eingerichtet, nutzte kein Protest mehr, und wenn er noch so drastisch war. Vergeblich protestierte in den zwanziger Jahren ein Oberleutnant a.D. gegen die Belästigungen durch die Deponie Schöneiche: „Die Ratten- und Fliegenplage ist fürchterlich, bei Silbermann hatten die Ratten ein lebendes Kind am Kopfe angefressen...“

Die Ausstellung ist eine Woche lang im Café Campus zu sehen, bis Ende November im TU-Lichthof, danach in der Humboldt-Universität.