Partitur für Polanski

Ein Symposium über Europäische Filmmusik mit Komponisten, Cuttern und Regisseuren in Gent. Statt Schuldzuschreibungen in Richtung Hollywood gab es eine Aufforderung zur transatlantischen Konkurrenz  ■ Von Gerhard Midding

Schenkt man einem boshaften Bonmot Glauben, so entspricht die Zusammenarbeit von Filmproduzenten und -komponisten dem Verhältnis eines Tauben zu einem Blinden. Wie findet man eine gemeinsame Sprache? Wie findet man überhaupt zusammen? Wie wird der eine seinen kommerziellen und der andere seinen künstlerischen Ansprüchen gerecht? Und was passiert mit der Musik, wenn der Film fertig ist? Gent ist kein schlechter Ort und das Internationale Filmfestival von Flandern kein schlechter Anlaß, um diesen Fragen nachzugehen. Bereits seit neun Jahren vergibt hier eine internationale Jury einen Preis für die beste Filmmusik, fast ebenso lange werden hier Filme mit Orchesterbegleitung aufgeführt und konzertante Hommagen an Filmkomponisten (in diesem Jahr war es Bernard Herrman) veranstaltet. In der Nachbarschaft, in Mechelen, wird die führende europäische Fachzeitschrift, Soundtrack, herausgegeben. Dank langjähriger Pflege der Filmmusikkultur hat sich das Festival ein ansehnliches fachkundiges Publikum geschaffen: Das diesjährige Seminar über Europäische Filmmusik war überaus gut besucht. Daß darunter neben interessierten Laien und Journalisten auch zahlreiche Filmemacher, Filmstudenten, Musiker und angehende Komponisten waren, zeigt, wie dringend das Bedürfnis nach Erfahrungsaustausch und Positionsbestimmung ist.

Um so bedauerlicher, daß die Komponisten auf dem Podium unter sich blieben. Zwar überforderte die Anzahl von 20 Podiumsdiskussionsteilnehmern (da hatte man offenbar vorsichtshalber erst einmal jedermann eingeladen und nicht damit gerechnet, daß so wenige Leute absagen würden!) den Diskussionsleiter, den französischen Filmmusikhistoriker François Porcile, gewaltig und stellte seinen Sinn für Parität auf eine harte Probe. Dennoch hätte die Anwesenheit von Regisseuren, Produzenten oder auch Cuttern die Wechselrede auf dem Podium belebt und differenziert.

Die Frage nach der gemeinsamen Sprache war auch das zentrale Thema des ersten Vortrags von Philippe Sarde, dem wahrscheinlich fleißigsten Komponisten des französischen Nachkriegskinos. Sarde hat bei der Arbeit an über 200 Partituren (unter anderem für Sautet, Tavernier, Bresson, Ferreri und Polanski) erfahren, wie groß die Angst vieler Regisseure vor der Macht ist, welche die Musik über ihren Film ausüben kann. Die Zusammenarbeit ist für Sarde immer aufs neue eine Frage des Vertrauens; er verschafft es sich, indem er mit den Regisseuren als Dramaturg spricht. Der Holländer Loek Dikker (der unter anderem mit Paul Verhoeven gearbeitet hat) griff Sardes Selbstverständnis als musikalischer Szenarist auf: „Ich diskutiere jeden Film ausführlich mit den Regisseuren, spreche über das Thema, den Aufbau des Films. Meist fragen sie mich nach einer Weile ungeduldig, wann ich denn endlich auf die Musik zu sprechen käme. ,Das habe ich die ganze Zeit getan‘, erwidere ich dann immer.“

Die Partitur als scénario musical, welches den Faden der Geschichte aufgreift, ohne sich in das Geschehen auf der Leinwand einzumischen, eine unauffällige Präsenz, die zum Gefühl der Kontinuität beiträgt und eine gleichsam architektonische Funktion erfüllt: So definiert auch der Brite Stanley Myers seine Arbeiten für Schlöndorff, Skolimowski und Cimino. Das Dilemma der meisten Filmkomponisten spitzte der Belgier Dirk Brossé auf die Situation des Anfängers zu: Einerseits solle er einen Stil entwickeln, der die eigene Persönlichkeit widerspiegelt, andererseits muß er in der Lage sein, sich, gleich einem Chamäleon, den unterschiedlichsten Genres und Stilrichtungen anzuverwandeln. Brossés Thema – Wie kommt ein junger Komponist ins Geschäft, wie stellt er den Kontakt zu Regisseuren und Produzenten her? – interessierte einen Großteil des Publikums schon aus eigener Betroffenheit; er verschenkte es, da er kaum von seiner eigenen Karriere abstrahierte: Nicht jeder hat das Glück, einen Film zu vertonen, der später für den „Oscar“ nominiert wird (im Falle von Brossé der Film „Daens“) und ihm nun eine Vielzahl von Angeboten aus aller Welt beschert. Der Vorschlag des deutschen Musikwissenschaftlers Lothar Prox war da schon hilfreicher und praktikabler: Er empfahl Anfängern das Vertonen von Stummfilmen als Experimentierfeld und Visitenkarte zugleich.

Überraschend war an dieser Diskussion über das europäische Kino das Fehlen von Krisengerede und Schuldzuschreibungen in Richtung Hollywood. Das US- Kino ist für viele Komponisten weniger eine übermächtige, bedrohliche Konkurrenz als vielmehr ein zusätzliches Arbeitsfeld, das freilich seinen eigenen Gesetzen gehorcht. Zwar beherzigt Sarde immer noch den Ratschlag Costa- Gavras', bei der Arbeit in Hollywood immer ein Rückflugticket in der Tasche zu haben. Und Stanley Myers schilderte anschaulich, wie verwirrend die Frage ist, für wen man in Hollywood eigentlich arbeitet: „An machen Filmen sind fünf Produzenten oder mehr beteiligt; es gibt einen executive, einen co-executive und einen line producer. Aber wer von denen trägt am Ende die Verantwortung?“ Dennoch komponieren beide, wie auch Dikker und der Italiener Pino Donaggio, häufig Partituren für US- Produktionen – und damit auch für ein Publikum, dessen Geschmack sich sehr von dem des europäischen Publikums unterscheidet. Die Amerikaner bevorzugen beispielsweise erheblich längere Musikpassagen als Untermalung, außerdem ist der Einfluß der Plattenfirmen groß, die unbedingt publikumswirksame Popsongs unterbringen wollen.

Der Gegensatz Europa – USA wurde eher differenziert als polarisiert, was sich auch der Tatsache verdankte, daß mit dem Veteranen David Raksin einer der brillantesten und eloquentesten Vertreter der amerikanischen Filmmusik geladen war. Raksin repräsentierte die „Society for the Preservation of Filmmusic“, welche sich der Bewahrung von Partituren, Manuskripten, Arrangements, Aufnahmen usw. widmet. Auch in Europa droht dieser Teil des kulturellen Erbes der Zeit und der Gleichgültigkeit des Filmgeschäfts zum Opfer zu fallen. Beispielsweise ist es nahezu unmöglich, in Frankreich historische Aufnahmen oder Notenmaterial zu finden, da diese im Besitz von Musikverlagen waren, die heutzutage nicht mehr existieren und nicht einmal Rechtsnachfolger haben. In Deutschland archivierte die Ufa zwar systematisch alle Unterlagen und Aufnahmen, im Krieg wurden diese aber zerstört. Zwar gibt es einige wenige nationale Bemühungen, dieses Erbe zu sichern, eine zentrale europäische Sammlung ist jedoch noch nicht in Sicht. Das anstehende hundertjährige Jubiläum des Kinos wäre kein schlechter Anlaß, sie zu begründen. Und Gent kein schlechter Ort.