60.000 Aserbaidschaner im Kessel

■ Karabach-Armenier drohen mit ihrer „Vernichtung“

Baku/Berlin (APF/taz) – Im Kaukasus zeichnet sich ein weiteres Flüchtlingsdrama ab. Rund 60.000 Menschen sind seit Tagen im Grenzgebiet Aserbaidschans zum Iran von armenischen Truppen aus Berg-Karabach eingekesselt. Die Angreifer, die am Wochenende bis Sangelan vorgerückt waren, hatten den aserbaidschanischen BewohnerInnen der Region am Dienstag morgen das Ultimatum gestellt: „Entweder Ihr flieht bis morgen, oder ihr werdet vernichtet.“ Mehrere hundert ZivilistInnen sollen bei der Offensive ums Leben gekommen sein.

Den Überlebenden stellt sich die Frage nach dem „Wie?“ und „Wohin?“. Einen direkten Zugang zu aserbaidschanisch kontrolliertem Gebiet haben sie nicht mehr, und vom Iran, dessen Regierung klar gemacht hat, daß sie keine Flüchtlinge aus Aserbaidschan in ihrem Land dulden wird, trennt sie der Grenzfluß Arax. Zahlreiche Menschen sollen nach Meldung der Nachrichtenagentur Turan in den vergangenen Tagen im Arax ertrunken sein. Rund 18.000 AserbaidschanerInnen schafften nach Meldungen von Radio Teheran die Flucht in den Iran. Sie wurden umgehend nach Aserbaidschan zurückgeschafft und dort in Flüchtlingslager gebracht, die in den vergangenen Monaten vom iranischen „Roten Halbmond“ aufgebaut worden waren. In den Lagern leben nun etwa 40.000 AserbaidschanerInnen.

In Radio Teheran hieß es, etwa 100.000 Menschen seien in aserbaidschanischen Dörfern entlang der Grenze blockiert und könnten wegen der Kämpfe nicht fliehen. Die amtliche Teheraner Zeitung Hamchahri berichtete, mehrere verletzte Flüchtlinge seien in iranische Krankenhäuser eingeliefert worden.

In dem Konflikt um die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Enklave Berg-Karabach im Westen Aserbaidschans wurden seit seinem offenen Ausbruch vor fünf Jahren fast 15.000 Menschen getötet. Aserbaidschan hatte im September in ein Waffenstillstandsabkommen eingewilligt, nachdem die nach Unabhängigkeit strebenden Karabach-Armenier im Sommer fast den gesamten Südwesten Aserbaidschans erobert hatten. In den vergangenen Tagen beschuldigten sich Aserbaidschan und die Behörden von Berg-Karabach gegenseitig, als erste den Waffenstillstand gebrochen zu haben.

Russische und iranische Diplomaten, sowie die KSZE, die schon lange vergeblich versucht, eine friedliche Lösung für den Konflikt um Berg-Karabach zu finden, verlangten gestern einen Abbruch der Kämpfe. Der iranische Staatspräsident Ali Akbar Haschemi Rafsandschani, sprach in Baku mit dem aserbaidschanischen Präsidenten Gaidar Alijew. Konkrete Hilfsangebote machte er „dem islamischen Brudervolk“ nicht. Er versicherte jedoch, der Iran sei „als Nachbar und Bruder“ äußerst interessiert an einer schnellen Wiederherstellung von Frieden und Ordnung in Aserbaidschan. Teheran versucht, sowohl gute Beziehungen zu Armenien als auch zu Aserbaidschan zu pflegen. Aus verschiedenen Quellen verlautet, daß der Iran zwar Armenien mit Waffen versorgt andererseits aber auch die islamischen Kräfte in Aserbaidschan unterstützt. Gleichzeitig will das Teheraner Regime die Unabhängigkeitsbestrebungen der starken aserischen Minderheit im eigenen Land (rund 15 Millionen Menschen) klein halten. Bei seinem Besuch in Baku verwies Rafsandschani die Aserbaidschaner, die den Karabach- Armeniern militärisch völlig unterlegen sind, auf Allahs Hilfe. Beim Abendgebet in der Tese-Pir- Hauptmoschee sagte er: „Ich bin überzeugt, daß das Volk Aserbaidschans mit Gottes Hilfe alle seine Kräfte mobilisieren und dem Feind Widerstand leisten wird.“

Die amtierende Vorsitzende der KSZE, die schwedische Außenministerin Margaretha af Ugglas, führt seit Wochenanfang Gespräche in Baku und Jerewan. Sie hält eine schnelle Einberufung der sogenannten „Minsker Friedenskonferenz“ zum Karabach-Konflikt für sinnvoll.

Aus dem eingekesselten Sangelan sind seit Ablauf des Ultimatums keine Nachrichten an die Außenwelt gedrungen. Möglicherweise hat dort die „ethische Säuberung“, wie in anderen von Karabach-Armeniern eingenommenen Orten, bereits begonnen. dora