Auch Ausbeutung ist relativ

■ Ein Boykott brasilianischen Orangensafts würde Kinderarbeit nicht verhindern / Heute debattiert der Deutsche Bundestag über das Elend brasilianischer Kinder

Rio de Janeiro (taz) – Brasilianische Jugendliche schuften. Um das schmale Familieneinkommen aufzubessern, rackern sie sich auf den Orangenplantagen im brasilianischen Bundesstaat São Paulo ab. Ihre Arbeit trägt dazu bei, daß der brasilianische Exportschlager Orangensaftkonzentrat auf dem deutschen Markt billiger ist als die Konkurrenz. Auf Antrag der Fraktion Bündnis 90/Grüne debattiert heute der Bundestag darüber, wie von deutscher Seite gegen diesen Mißstand angegangen werden kann. Jedoch: Was aus deutscher Sicht Ausbeutung Minderjähriger ist, ist in Brasilien Gesetz: Kinder ab 14 Jahren dürfen laut brasilianischer Verfassung arbeiten.

„Sie nutzen die Jugendlichen brutal aus“, bestätigt Paulo Clio Morini, Direktor der Landarbeitergewerkschaft in Itapolis, der größten Orangenanbauregion Brasiliens. 35 Prozent der 50.000 Orangenpflücker in der Region sind Jungen zwischen 14 und 18 Jahren. Sie ernten pro Tag bis zu 60 Kisten à 28 Kilogramm. Im Alter von 35 Jahren, so Morini, sind sie körperlich verschlissen.

Nach Angaben der Internationalen Organisation für Arbeit tragen knapp drei Millionen Kinder im Alter von zehn bis 14 Jahren zum Familieneinkommen bei. Die Gruppe der 15- bis 19jährigen ist mit 8,4 Millionen Beschäftigten auf dem Arbeitsmarkt beinahe genauso stark vertreten wie die 20- bis 24jährigen Brasilianer.

Um die Arbeitsbedingungen zu verbessern, befinden sich die 28.000 gewerkschaftlich organisierten Orangenpflücker in Itapolis seit zehn Tagen im Streik. Sie verlangen ihr in der brasilianischen Verfassung verbrieftes Recht: 44-Stunden-Woche sowie die Garantie für Minderjährige, neben der Arbeit die Schule besuchen zu können.

Auf den Orangenplantagen aber wird montags bis samstags neun Stunden täglich gearbeitet. Weil Kinder und Eltern frühmorgens gemeinsam aufs Feld transportiert werden und erst abends nach 19 Uhr wieder in die Stadt zurückkehren, ist ein Schulbesuch ausgeschlossen.

Trotz dieser Mißstände ist sich Morini darüber im klaren, daß die Arbeiter in der Region von Itapolis vergleichsweise gut dastehen. Alle Orangenpflücker arbeiten auf Lohnsteuerkarte. Der Monatsverdienst liegt bei eineinhalb Mindestlöhnen, etwa 150 US-Dollar.

In der 200 Kilometer entfernten Stadt Limeira ist dies nicht der Fall. Kinder und Jugendliche werden dort von den Eltern mit auf die Plantagen genommen, um das Tagessoll der Erwachsenen zu erfüllen – wofür die Eltern dem Arbeitgeber sogar noch dankbar sind. „Sie sind froh, daß sie ihre Kinder mit zur Arbeit nehmen können. So gerät der Nachwuchs nicht auf die Straße“, schildert Rosa Yamashita die Meinung vieler Landarbeiter.

Die Agraringeneurin reiste im Auftrag des Arbeitsministeriums in die Region, um der extrem hohen Rate von Arbeitsunfällen nachzugehen. Dabei stellte sie fest, daß die Arbeiter schutzlos den Bienenschwärmen ausgesetzt sind, die von dem süßen Orangensaft angezogen werden und beim Pflücken häufig von der drei Meter hohen Leiter fallen, weil die Orangensäcke mit einer Kapazität bis zu 30 Kilo zu schwer sind. Dennoch gilt unter den Landarbeitern die Arbeit im Orangenhain als Privileg: „Sie arbeiten im Schatten, und wenn sie Durst haben, können sie die Orangen auslutschen“, sagt Yamashita.

Auf den Zuckerrohrplantagen würden sich die Arbeiter durch das messerscharfe Gras die Haut aufschneiden.

Der brasilianische Soziologieprofessor Thomas Kemper ist davon überzeugt, daß ein Boykott brasilianischen Orangensafts in Deutschland nicht zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen auf den Plantagen führen würde. „Orangen, die unter angemessenen Arbeitsbedingungen geerntet werden, könnten in Deutschland mit einem Gütesiegel ausgezeichnet werden“, schlägt er dagegen vor. Astrid Prange