Das zieht sich und zieht sich

■ Einar Schleefs Erzählung „Die Bande“ an der Volksbühne

Robert Hunger-Bühler ist ein begnadeter Schauspieler und ein Regisseur, den noch keiner kennt. Vor einigen Jahren hat er in Christoph Nels „Leonce und Leona“- Inszenierung den Prinzenerzieher Valerie als schrägen Hippie gespielt, ein versponnener Anarcho. Wer ihn in dieser Rolle sah, liebt ihn lebenslänglich.

Jetzt hat er die Valerio-Figur in einer seltsamen Mutation auf die Bühne gestellt: Im dritten Stock der Volksbühne geistert ein halbes Dutzend müder Freaks durch den Abend: „Die Bande“ – amoklaufende Spießer aus dem Mief des real existierenden Sozialismus. Die Vorlage, eine Erzählung von Einar Schleef, geschrieben zu Beginn der achtziger Jahre, ist geprägt von Schleefs reduzierter Sprache: kurze, verstümmelte Sätze, Schlag auf Schlag, lakonisch, ohne Erklärungen und von einiger Brutalität.

Schleef erzählt von einer Explosion krimineller Energie: Was mit Wochenendausflügen und Nacktbaden beginnt, steigert sich zum Einbruch in eine Hühnerfarm: Hühner und Eier müssen dran glauben, die ersten Opfer der heftig um sich schlagenden Privat- Desperados, die hauptberuflich als kleine Angestellte verkümmern. Am Ende steht die Fast-Vergewaltigung eines Funktionärs durch drei politisch korrekt enthemmte Frauen, die dem Herren, unzufrieden mit seinem sexuellen Leistungsvermögen, schließlich den Schwanz abbeißen. Hinter diesem Amoklauf wird Freiheitssehnsucht sichtbar, die sich unter dem Druck der Verhältnisse in blindwütige Aggressivität entlädt, oder, um es mit den schweizerisch-melancholischen Worten des Regisseurs zu sagen: „Ein hoffnungsloses Gefühl von Glück.“

Was bei Schleef bleischwer war, scheint Robert Hunger-Bühler charmant und bunt auf die kleine Bühne stellen zu wollen: Seine DDR-Kleinbürger sehen aus wie aufgedunsene Alt-Hippies, letzte Ausläufer des Spirits of the Seventies, als alle noch jung und knackig waren. Aber die bunte Schar wirkt ziemlich abgeschlafft. Müde und lustlos stehen sie vor uns rum und singen Wanderlieder, populäre Reste der deutschen Romantik. Zwei Herren üben sich in bester Schwitters-Manier an einem hübschen rhythmischen „bäng-bäng“, ein Herr gibt Klamauk-Sprüche von sich, und ein Vierter, schon etwas aufgeschwemmt, fragt immer wieder im Ton eines Grenzpolizisten: „Guten Tag, haben Sie irgendwelche alkoholischen Getränke zu sich genommen, guten Tag, haben Sie irgendwelche alkoholischen Getränke zu sich genommen...?“ Das sind in der Tat Fragen.

Wir wohnen einer eigenwilligen „Figaro“-Aufführung bei, wir werden Zeugen eines bemerkenswert schleimigen Versuchs, John Lee Hookers „Don't look back“ zu intonieren, wir sehen allerlei Schabernack und einige ziemlich charmante Scherze. Aber es bleibt, trotz Flohmarkt-Buntheiten, trotz Elvis und des ganzen Kitsches der Populärmusik, den Hunger-Bühler über die tristen Szenen kippt, eine bleischwere Veranstaltung: „Nichts passiert“ steht irgendwann auf der Anzeigentafel, die über den Köpfen der Amateur-Terroristen hängt wie eine Überschrift. Passender kann man es nicht sagen: Trotz der grellen Aktiönchen passiert nämlich eigentlich nichts. Stillstand, Warten, Mief. Lethargie. Müdigkeit. Das ist einerseits natürlich ziemlich intelligent: Genau aus dieser Lähmung heraus explodiert ja die kriminelle Energie der Bande. Das Problem ist nur, daß sich der Druck des Stillstands auch gnadenlos der Zuschauer bemächtigt: Das zieht sich und zieht sich. Bei der Premiere habe ich zum ersten Mal die älteren und erfahreneren Kritiker-Kollegen um ihren gesunden Theaterschlaf beneidet: eine Flucht in das Reich der Träume aus dem Elend der Wirklichkeit. Peter Laudenbach

Nur noch morgen um 20 Uhr im 3. Stock der Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz