Vermutlich der Neandertaler

■ Ausstellung „First Europeans“ in der Großen Orangerie im Schloß Charlottenburg

Geschichte ist geduldig, besonders die Frühgeschichte. Je älter die Fundstücke sind, desto weniger widersetzen sie sich politischen Vereinnahmungen. Man kann die Zeichen früher Menschheitsgeschichte auf völkische Aussagen hin deuten, sie können historisch materialistisch herausgesucht werden und nehmen auch geduldig hin, daß sie den europäischen Binnenmarkt rechtfertigen. Die Ausstellung „Erste Europäer“, die derzeit in der Großen Orangerie im Schloß Charlottenburg zu sehen ist, wurde in London und Madrid geplant und stellt die Frage: Wer war der erste Europäer? Es war vermutlich der Neandertaler, und er hat seine Werkzeuge so über Europa verstreut, daß man ihn als gesamteuropäisches Phänomen deuten kann.

Leider starb aber der Neandertaler, angeblich unübertroffener Vertreter menschlicher Anpassungsfähigkeit, aus. Man weiß immer noch nicht genau, warum. Die Ausstellung hilft über dieses evolutionsgeschichtliche Dilemma mit einer Dunkelkammer hinweg, in der mehrere Fernseher die Wissenslücke stopfen sollen. Am Ende kommt heraus, daß Einwanderer aus Asien und Afrika den europäischen Binnenmenschen verdrängten, weil sie intelligenter und „phantasiebegabter“ waren. Der europäische Homo sapiens neanderthaliensis hatte schlicht vergessen, sich durch einen Mauergürtel und Asylgesetzgebung vor dem Homo sapiens zu schützen, und so wurden die ersten Europäer aus Europa „verdrängt“, bevor die Kulturgeschichte „bleibender Werte“ überhaupt erst begann. Es wäre wichtig gewesen, den Prozeß der „Verdrängung von Kulturen“ auf europäischem Niveau zu erläutern, anstatt ihn einer Multivision zu überlassen. Die Ausstellung hat aber noch eine weitere dunkle Höhle. Sie ist nur in der Berliner Variante der Wanderausstellung zu sehen. Neben den Fundstücken, die in London und Madrid für die Europäerdiskussion auserkoren wurden, gibt es Objekte zu sehen, die sonst in Jena, Weimar und Berlin aufbewahrt werden. Die ehemalige ostdeutsche Vor- und Frühwissenschaft arbeitet bereitwillig am europäischen Mythos mit.

Doch damit nicht genug. Die Berliner Variante versucht einen Sprung von der Frühgeschichte in die Zukunft. Dreizehn Medienkünstler haben in einem Bereich der Orangerie ihre Fernseher und Computer abgestellt, um „moderne Versionen“ vorzuführen. Konzeptionell ist diese Zusammenstellung ein Desaster. Die Katalogautoren sprechen von einem „Brückenschlag“ zwischen Kunst und Naturwissenschaft. Doch die Auseinandersetzung mit den theoretischen Voraussetzungen der Medienkunst und der Praxis naturwissenschaftlicher Ausstellungen wurde gescheut. Die fundamentale Annahme, daß unsere Wahrnehmung der menschlichen Vergangenheit durch Medien geprägt ist, hat die Zusammenstellung der frühen Fundstücke nicht beeinflußt, und die zusammengestellte Medienkunst läßt keine Auswahlkriterien erkennen, die es mit dem „Brückenschlag“ zwischen den Neandertalern und dem Homo sapiens digitalis ernst meinen. Die große Ausnahme scheint die Höhle von Peter Weibel und Bob O'Kane zu sein. Sie trägt den Titel „Der Vorhang von Lascaux“. Der Betrachter durchschreitet einen dunklen Korridor und wird dabei von einer Videokamera erfaßt. Sie überträgt das Bild des Betrachters mit leichter Verzögerung auf eine Projektionsfläche, die in den Farben der frühzeitlichen Höhlenmalerei von Lascaux gehalten ist. Das Bild des Betrachters wird hier mit der Malerei der Frühzeit verwoben. Gleichzeitig wird die erkenntnistheoretische These verbildlicht, daß der Betrachter die Welt formt, die er sieht. Leider ist die Höhle beliebig videotisch bemalbar. Man könnte auf der Projektionsfläche ebensogut die Silhouette Moskaus zeigen und den Betrachter mit Moskauer Realitäten verweben, was die Künstler je nach Ausstellungsangebot sicherlich auch tun werden, ohne dabei Beliebigkeit zu fürchten. Denn in dieser Art Medienkunst ist beliebiger Austausch von Zeichen ein Programm. Neben der Lektüre von Platons Höhlengleichnis und „Rösslers endophysikalischer Interpretation der Quantenphysik“ haben die Künstler Baudrillard und McLuhan gelesen. Das gibt ihnen die theoretische Legitimation, die Zeichen der Kunst überall dort zu verteilen, wo es erwünscht und bezahlt wird. Nils Röller

Große Orangerie des Schlosses Charlottenburg, bis zum 18. Februar 1994, täglich 10 bis 18 Uhr, Mi. bis 21 Uhr. Katalog: 30 DM.