Kein Reparaturbetrieb für böse Kinder

■ Opfer von Gewalt finden Zuflucht im Kinderschutzzentrum / Psychologen bieten in einer alten Villa in Steglitz Krisenberatung und ein Zuhause auf Zeit / Trennung der Kinder von Eltern ist oft die ...

„Nicht würgen, nicht beißen, nicht in den Unterleib treten“ lauten die ersten drei Regeln, die die Kinder für ihr Zusammenleben aufgestellt haben. Doch nachts schreien sie immer wieder im Schlaf auf, wenn Alpträume sie quälen. Für ein paar Wochen oder Monate sind sie der Gewalt entkommen. Einige von ihnen wurden über einen langen Zeitraum sexuell mißbraucht, andere kamen halb verhungert und vernachlässigt in der Wohngruppe des Kinderschutzzentrums an.

Strafanzeigen müssen die Eltern nicht fürchten

„Jenny, Michael und Robert sahen wie afrikanische Hungerkinder aus, als sie zu uns kamen – ein Anblick, den man sonst nur aus dem Fernsehen kennt“, erinnert sich Manfred Rais, einer der Sozialpädagogen im neunköpfigen Pädagogen- und Psychologenteam, das mißhandelte Kinder in einer alten Villa in Steglitz betreut. Eine Mutter aus Ostberlin hatte die drei unterernährten, in ihrer geistigen Entwicklung zurückgebliebenen Geschwister im Kinderschutzzentrum abgegeben, als sie nicht mehr weiter wußte. Jennys kleiner Körper war übersät mit blauen Flecken, die ihr der Vater durch Schläge beigebracht hatte. Nach mehreren Beratungsgesprächen mit der Mutter gelangten die Therapeuten zu der Überzeugung, daß das Ehepaar die Kinder nicht erziehen könne.

Viele Eltern aus dem Osten haben krude Erwartungen

In ausweglosen Familiensituationen wie dieser bietet das Berliner Kinderschutzzentrum neben einer Krisen- und Familienberatung auch die vorübergehende Unterbringung in seiner Kinderwohngruppe an. Das ist oft notwendig, um die Kinder vor weiterer Gewalt zu schützen. Strafanzeigen müssen die Eltern nicht befürchten, denn für die Berater steht nicht die Strafe, sondern die Familientherapie im Vordergrund. Nicht selten stellt sich dabei jedoch heraus, daß die Trennung der Kinder von den Eltern die beste Lösung für die Familie ist.

„Viele Eltern betrachten uns als einen Reparaturbetrieb für ihre vermeintlich mißratenen Kinder“, beklagt Rais. Besonders die Mütter und Väter aus dem Ostteil der Stadt, die es gewohnt waren, Erziehung zu delegieren, lieferten ihre Kinder mit der Erwartung ab, sie nach ein paar Monaten „repariert“ und wunschgemäß „funktionierend“ zurückzuerhalten. Sie seien es nicht gewohnt, über Beziehungen und Gefühle nachzudenken und zu sprechen.

„Wer Kinder mißhandelt, hört damit nie ganz auf“

Seit zwei Jahren betreibt das Kinderschutzzentrum in Hohenschönhausen eine Familienberatungsstelle. 600 Meldungen über Kindesmißhandlungen werden allein an dieser Stelle alljährlich registriert. Etwa 50 Familien kommen in jeder Woche zur Familientherapie. Doch die Berater wissen um die relative Erfolglosigkeit ihrer mühsamen, langwierigen Therapiearbeit. „Wer Kinder mißhandelt, hört damit nie ganz auf“, sagt der Psychologe Georg Kohaupt. „Die Situation für die betroffenen Kinder etwas erträglicher zu machen ist alles, was wir erreichen können.“ Doch manchmal kommt alle Hilfe zu spät. Mehrere Kinder in Berlin wurden auch in diesem Jahr von ihren Eltern wieder zu Tode geprügelt. Ein rechtzeitiges Signal von Nachbarn, Kindergärtnerinnen, Lehrern oder Verwandten hätte ihnen vielleicht das Leben retten können.

Zerrissen zwischen Wut, Trauer und Schuldgefühlen

Die Kinder, die in der Wohngruppe des Kinderschutzzentrums Zuflucht finden, haben in ihrem bisherigen Leben zumeist schlechte Erfahrungen mit Erwachsenen gemacht. Ihre Gefühle sind zerrissen. Sie sind aggressiv, wütend oder traurig und deprimiert zugleich. Und nicht selten fühlen sie sich zudem schuldig am Zerbrechen der Familie. Die Unterbringung in der Wohngruppe gibt den Kindern die Möglichkeit, Atem zu holen, sich fallenzulassen und Abstand zu gewinnen von den Eltern und ihren Mißhandlungen.

Die mehrgeschossige Villa im Grünen bietet dafür Raum und ist mit all ihren Spielmöglichkeiten eine friedliche Oase für die Kinder. In der Hängematte, quer durchs Zimmer gespannt, lassen sie im wahrsten Sinne des Wortes ihre Seele baumeln. In der Holz- und Tonwerkstatt können sie ihre eigene Kreativität entdecken. Refugium jedes Kindes ist der Spielraum mit Ritterburg, Kasperletheater und einem Trainings-Boxball – Spielball für die aufgestauten Aggressionen sozusagen.

Vertrauen wächst nur langsam

Daß sie von der Gruppe wieder Abschied nehmen müssen, wissen die Kinder von Anfang an. In der Einzeltherapie werden sie darauf vorbereitet. Manches Kind erlebt hier zum ersten Mal in seinem Leben Wärme, Nähe und Zuwendung durch einen Erwachsenen. Daß sie darauf zunächst mit Mißtrauen und Verwirrung reagieren, verwundert da kaum. Die einzig sichere Erwartung in ihrem bisherigen Leben waren Schläge und Gewalt. Das Vertrauen wächst langsam – nicht von ungefähr lautet das letzte der Kinder-Gesetze, die Regel Nummer neun schlicht: zuhören. Renate Oschlies (epd)