„Wir leben mit ihnen...“

Frauen aus Belfast sprechen über ihren komplizierten Alltag und eine hilflose Politik

Die meisten der Frauen, die der Opsahl-Kommission ihre Ideen und Erfahrungen erläuterten, haben seit vielen Jahren in Selbsthilfegruppen für Kinder, Alte und Jugendliche gearbeitet und sich mit Problemen von Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und Jugendkriminalität herumgeschlagen. Ihnen war der Ansatz der Kommission nicht „zu allgemein“. Ihr Leben beinhaltet tausend kleine und große Probleme, die sich nicht voneinander trennen lassen und für deren Lösung sie ständig verschiedene Mittel und Wege finden müssen.

Der vorliegende Text aus dem Opsahl-Report rubriziert nach Problemen, nicht nach Autorinnen. Das Ich und das Wir wechselt zwischen Frauen und Organisationen, und erst aus dem Gesagten wird (manchmal) klar, ob er aus „protestantischer“, „katholischer“ oder gar „gemischter“ Perspektive spricht.

Arbeiterviertel

Frauen haben eine entscheidende Rolle gespielt, indem sie auf Probleme der sozialen und wirtschaftlichen Verelendung in diesen Vierteln öffentlich aufmerksam gemacht haben. Auch bei den Versuchen, die gewaltsam ausgetragenen sektiererischen Konflikte zu lösen, waren Frauen die Schlüsselfiguren.

Wir sind eine Frauengruppe, die sich ganz besonders intensiv mit den Problemen unseres Viertels befaßt. Wir wissen, daß bei allen hier sehr viel guter Wille herrscht, die Situation zu entspannen. Menschen aus allen Lagern wollen, daß die Gewalt ein Ende hat und man in einer sicheren, angenehmen Umwelt leben kann, in der Dialog und Freundschaft mit dem Nachbarn möglich ist.

Für die Leute vom Stormont- Estate [Gebiet sozialen Wohnungsbaus; Anm. d. Red.] gibt es nur drei oder vier größere Arbeitgeber, davon ist einer die Regierung. Man bietet uns nur sehr schlecht bezahlte Jobs an, Putzarbeiten zum Beispiel, aber von weitem sieht es trotzdem aus, als ginge es uns gut. Jeder fühlt sich in seinen Vorurteilen über „die Protestanten“ bestätigt, obwohl es, wie wir selbst in einer Umfrage festgestellt haben, Schlechtbezahlten in der Regel sogar schlechter geht als Arbeitslosen. Dabei müßten die Behörden anerkennen, wie wichtig unsere Arbeit, die ja eigentlich vom Sozialamt geleistet werden müßte, für die Gemeinschaft ist, und uns dementsprechend dafür bezahlen.

Menschen, die fähig und bereit sind, solche Arbeit in der Nachbarschaft zu leisten, sollten als Anwärter auf solche Jobs beim Sozialamt anerkannt werden. Wir tun diese Arbeit ja bereits. Wir sind „arbeitslos“, arbeiten aber als Freiwillige, um das soziale Netz der Nachbarschaft nicht völlig vor die Hunde gehen zu lassen. Als Arbeitslose kosten wir genauso viel. Wäre es nicht besser, der Staat stellt uns für diese sinnvolle Arbeit ein?

Nur Idealismus und das Engagement der Frauen im Viertel hält hier ein einigermaßen geregeltes Leben aufrecht. Als Frauen, die in den Gebieten Belfasts wohnen, die am stärksten von Gewalt und Armut betroffen sind, leisten wir die wichtigste und beste Unterstützung und Hilfe für die Jugendlichen in diesen Vierteln. Wir leben mit ihnen, jeden Tag, jede Stunde.

Politik

Es sind die Themen des Alltags, die meistens den Frauen überlassen bleiben und die uns haben aktiv werden lassen. Der Mangel an Diskussionen über gesellschaftlich relevante Probleme wie Armut und Verelendung verstärkt das Gefühl der Ohnmacht bei den Frauen. Wir unterhalten uns über Sachen, die für ganz normale Leute wichtig sind, aber diese Sachen stehen in keinem politischen Programm. Selbst wenn man uns einmal an einer politischen Diskussion beteiligt, gibt man uns immer das Gefühl, wir seien dumm, weil keiner auf das hört, was wir zu sagen haben. Ich bin wütend und frustriert, aber ich bleibe stumm.

Am Ende beschließen wir, daß es ja doch keinen Sinn hat und machen einfach alles selbst. Unsere Erfahrung hat gezeigt, daß katholische und protestantische Frauen leicht zusammenarbeiten können, wenn es um konkrete Dinge geht, die unser Leben direkt betreffen.

Wenn Frauen auf der Basis von Fraueninteressen gewählt würden, dann wäre das eine gute Sache und man wüßte, daß da endlich Politikerinnen sind, die sich um die wirklichen Probleme kümmern. Unsere Politiker sind ja nicht wirklich verantwortlich für das, was passiert, deshalb gibt es auch keine Diskussion über Arbeitsplätze oder Armut, und viele Kandidaten kommen gar nicht mehr hierher.

Wir glauben, daß der derzeitige parteipolitische Prozeß auf kommunaler Ebene Fraueninteressen weder fördert noch Frauen ermutigt, selbst daran teilzunehmen. Die Politik geht über die Bedürfnisse der Menschen völlig hinweg.

In dieser Gegend liegt die Arbeitslosigkeit bei 85 Prozent, und 1994 sollen noch mehr Leute auf Stütze sein, das ist eine ganze Generation von Arbeitslosen, die immer nur von der Hand in den Mund gelebt hat.

Wissen

Wir arbeiten in einer Frauengruppe und sind der Meinung, daß man, wenn man im Besitz von Informationen ist, selbstbewußter und fähiger wird und anderen, die mehr wissen, weniger ausgeliefert ist. Wir arbeiten in drei Projekten, der Women's Information Group, Community Health Information Workers und dem Young People's Health Project. Alle drei Projekte versuchen vor allem, Wissen zu vermitteln, mit dem Ergebnis, daß wir alle selbstbewußter geworden sind. Informationen werden gegeben, wenn sie gebraucht werden, und zwar in einer Sprache, die wir alle verstehen und mit der wir als Frauen etwas anfangen können. Ich sehe die Veränderungen bei den Frauen. Sie können jetzt viel leichter vor der Gruppe reden.

Polizei

Die jungen Menschen gehen von der Schule ab, gedemütigt, ohne Selbstvertrauen und ohne Vertrauen in die Zukunft. Sie kommen oft aus Familien, in denen Arbeitslosigkeit schon lange ein fester Be

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standteil des Lebens ist und in denen Verwandte für einen Autodiebstahl schon mal mit dem Leben bezahlt haben.

Ich fühle mich bei dieser Beteiligung an „Initiative 92“ nicht besonders wohl. Wir haben schon einmal staatliche Gelder verloren; da hatte uns das Nordirland-Ministerium Kontakte zu den Paramilitärs vorgeworfen.

Jeden Abend sammeln sich die Jungs an der Mauer, jeden Abend kommen Polizei und Soldaten auf ihrem Rundgang vorbei, und jeden Abend gibt es eine Schlacht: Einer wirft einen Stein oder ruft etwas, und dann haben Polizisten und Soldaten einen Vorwand, reinzugehen und ein paar Jungs mitzunehmen. Ich meine nicht, daß die Jungs nicht verhaftet werden sollen, wenn sie das Gesetz gebrochen haben. Aber sie werden vor ihren Freunden herumgeschubst, die Polizisten brüllen und beschimpfen sie mit den schmutzigsten Ausdrücken; sie reden genauso wie die Jungs, und wenn einer hingeht und sich beschweren will, passiert dasselbe noch einmal. Es gibt keine wirkliche, anerkannte Autorität. Und wenn die Jungs auf dem Revier sind, versucht man zu allem Überfluß noch, sie zu Informanten zu machen.

Ich habe Enkelkinder, und ich will nicht, daß sie das gleiche mitansehen müssen. Ich will nicht glauben, daß das ihre Zukunft ist. Wir glauben, daß es einige sehr negative Faktoren gibt, die jeden Fortschritt verhindern.

Jeder hier findet, daß die Armee sehr viel weniger sichtbar sein sollte. Soldaten sollten Leute nicht anhalten und durchsuchen dürfen. Solche Aktionen sind schuld an der großen Bitterkeit und an dem Haß, mit dem vor allem Jugendliche hier herumlaufen.

Junge Männer werden ständig gejagt – von Armee und Polizei. Das demütigt die Jungs und bringt das ganze Viertel in Verruf. Wer hier auf seinem abendlichen Rückweg ins Eigenheim in seinem schicken Mittelklassewagen vorbeifährt, sieht immer wieder junge Männer in Jeans, die in aller Öffentlichkeit angehalten und durchsucht werden. Natürlich denken die dann ganz automatisch: Ach, die sind wohl von der IRA. Dabei hat der Betreffende vielleicht überhaupt gar keine politische Meinung und nicht das Geringste mit der IRA zu tun. Solche Aktionen haben mit Community Policing nichts zu tun, sie sind völlig kontraproduktiv. Ich verstehe nicht, warum die Behörden nicht begreifen, wieviel Schaden sie mit so etwas anrichten, und daß sie auf diese Weise den Willen der Menschen hier untergraben, aus der Gewalt herauszukommen.

Trennmauern

Die Trennmauern hassen alle. Sie wurden, ohne uns zu fragen, errichtet [zwischen unionistisch-protestantischen und nationalistisch- katholischen Gebieten; Anm. d.R.], hauptsächlich auf Drängen von Polizei und Armee oder auf Druck von Politikern. Diese Mauern sind uns aufgedrängt worden mittels einer Angst, die von jenen geschürt wird, die sie zur Aufrechterhaltung ihrer Macht brauchen. Die Mauern haben keine Probleme gelöst, vielmehr haben sie denen genutzt, denen unsere Spaltung willkommen ist.

Es ist allgemein bekannt, daß die Sicherheitsbedürfnisse der Armee unser soziales Leben stark bestimmen und zum Beispiel sogar die Hauptrolle in der architektonischen Gestaltung der Wohnblöcke [des sozialen Wohnungsbaus; Anm. d.R.] spielt.

Beispielsweise gibt es in unserem Block – wie in allen anderen neueren Blocks – nur jeweils einen Ein- und Ausgang. Deshalb haben Ambulanzen und Feuerwehren große Schwierigkeiten, in Notfällen schnell dorthin zu kommen, wo sie gebraucht werden.

Die Leute sind auch demoralisiert durch die würdelose Art, in der sie ihre Toten begraben müssen. Der neue Ein- und Ausgang bedeutet, daß man einen umständlichen und jedem völlig unbekannten Weg zur Kirche gehen muß, der durch enge Gänge führt. Neue Ein- und Ausgänge dürfen über Nacht von Polizei und Armee geschlossen werden. Nicht selten findet man morgens seinen gewohnten Weg blockiert, ohne daß irgendjemand gefragt worden wäre.

Kürzlich wurde bei einer Umfrage festgestellt, daß 45 Prozent der Befragten in integrierten Wohnblocks [das heißt, „unionistisch-protestantisch“ und „nationalistisch-katholisch“ zusammen; Anm. d.Red.] leben möchten. Wir brauchen eine positive Regierungspolitik, die unserem Wunsch nach Zusammenleben und -arbeiten Rechnung trägt. Presse, Rundfunk und Fernsehen berichten über Ereignisse in Nordirland auf eine Weise, die den Zuschauer keine Rationalität erkennen läßt. Wir haben genug von Gewalt und wollen die Möglichkeit haben, einen Dialog ohne urteilende oder besserwisserische Kommentare führen zu können: Nur so kann, mit neuer Großzügigkeit, an alte Themen herangegangen werden.

In den letzten zwanzig Jahren ist die Segregation nach religiöser/politischer Zugehörigkeit in den Arbeitervierteln immer weiter gegangen. Positive Veränderungen haben sich, was die Zusammensetzung der Bevölkerung betrifft, vor allem im Geschäftsleben ergeben. Die Segregation der Wohnviertel jedoch ist von oben durch Mauern, Straßensperren, Barrieren und Pufferzonen institutionalisiert und verstärkt worden. Zwar sehen wir ein, daß aufgrund der herrschenden Angst auch die Bevölkerung solche Maßnahmen fordert; dennoch sollten solche Maßnahmen nur ergriffen werden, wenn ihre langfristigen Konsequenzen genügend bedacht worden sind.

Alternativen sollten zusammen mit den Leuten aus dem Viertel überlegt und diskutiert werden. Einige der Trennmauern von 1970 sind inzwischen völlig selbstverständlich geworden und haben Nachbarschaften aufs gründlichste voneinander getrennt.

Die Regierung sollte die Diskussion über Möglichkeiten integrierter Wohnbezirke anregen und in Zukunft selbst eine solche Politik konsequent verfolgen.

Gefangene

Ich lebe in einem protestantischen Viertel, und nach meiner Erfahrung können viele der Gefangenen, die in die Gemeinschaft entlassen sind, einen positiven Einfluß haben. Sie sind meistens reifer als die derzeitigen aktiven Paramilitärs [IRA oder illegale protestantische Militante; Anm. d.Red.]. Sie haben für ihren Aktivismus mit ihrer Freiheit bezahlt und meist wenig Lust auf mehr... Oft wären sie unsere besseren politischen Repräsentanten, aber solange die aktive Führung der Paramilitärs etwas anderes will, können sie keine politische Verantwortung übernehmen.

Er hat sich mit Soziologie beschäftigt, Englisch und Mathematik und hat Referenzen für die Queen's University, Belfast, aber die Uni würde sich natürlich nach seinem polizeilichen Führungszeugnis erkundigen, und das findet er ungerecht, denn zur Uni sollte man gehen können allein aufgrund seiner akademischen Qualifikation. So wird er doppelt bestraft.

Er ist nach Milligan gekommen und nach der Verurteilung auch mit Katholiken zusammengekommen. Vor dem Gefängnis konnte er Katholiken nicht leiden, er wußte nicht warum, er kannte ja gar keine. In Milligan hatte er dann mehr katholische als protestantische Freunde, und als er ins Maze verlegt wurde, ist er extra nicht in den loyalistischen [= protestantischen; Anm. d.Red.] Flügel gegangen. Er sagt, dadurch, daß er Katholiken kennengelernt hat, sind ihm die Augen geöffnet worden, und daß der Krieg sinnlos ist. Wir haben zwei Kinder. Seit man ihn verhaftet hat, bin ich nicht mehr unter Leute gegangen. Einmal habe ich aber im Supermarkt eine Frau getroffen, die hat mich zu einer Tasse Tee ins Frauenzentrum mitgeschleppt. Inzwischen bin ich im Verwaltungs- und Finanzkomitee. Ich habe ein Jobtraining gemacht, einen Abschluß in Englisch nachgeholt und einen Kurs in Kinderpsychologie besucht. Mein Mann hat mich bei allem ermutigt. Wenn er rauskommt, werden wir wahrscheinlich aus Irland weggehen. Er will mit den Paras nichts mehr zu tun haben.

Der Druck, dem einer ausgesetzt ist, der aus dem Gefängnis kommt, wird selten anerkannt. Er muß mit veränderten Verhältnissen fertig werden, mit seiner Familie, mit den Unterschieden zu früher, bei ihnen und in sich selbst. Und er braucht eine gute Beratung in allem, was Geld, Beihilfen, Wohnung und vor allem menschliche Beziehungen angeht.

Die Aussagen wurden für die Opsahl-Kommission zusammengestellt von Kate Kelly