Schnelle Hilfe in Indien

■ Nach dem Beben muß eine ganze Region wieder aufgebaut werden

Bombay (taz) – Das Erdbeben, das im Morgengrauen des 30. September im Gliedstaat Maharaschtra zahlreiche Dörfer zerstörte und in ihren Häusertrümmern fünfzehntausend Menschen begrub, hat auch die indische Gesellschaft tief erschüttert. Das liegt nicht nur am Ausmaß der wohl größten Katastrophe in der Geschichte des Landes. Diese kam überdies im Herzen des Landes und mit einer Wucht, die auch die Wissenschaftler überraschte.

Die nördliche Peripherie des Himalaya und der ihr vorgelagerten Gangesebene ist als geologische Nahtstelle ein chronisches Erdbebengebiet. Dagegen war auf ein Beben dieses Ausmaßes in Marathwada, mitten im Subkontinent, trotz häufiger kleiner Erdstöße niemand vorbereitet. Mit einem Mal wurde die große Bevölkerungsmehrheit, die bisher geglaubt hatte, bei all ihrer wirtschaftlichen und sozialen Not mindestens festen Boden unter den Füßen zu haben, aus ihrer Sicherheit aufgestört. Die Behörden ihrerseits sorgen sich um die Stabilität der Westregion, die mit den Städten Bombay, Pune und Bangalore achtzig Prozent der Industrieanlagen des Landes beherbergt.

Kaum wurde das Ausmaß des Unglücks bekannt, kam es im ganzen Land zu spontanen Hilfsaktionen. Schüler schwärmten in die Nachbarschaft aus, um Geld zu sammeln, Filmstars riskierten einen Aufruhr um ihre Person, als sie sich mit der Bettelbüchse in Slums begaben. Die Fluglinie „East- West-Airlines“ eröffnete Gratisflüge für Hilfspersonal und -güter, Firmen adoptierten ganze Dörfer, und bei jeder größeren gesellschaftlichen Veranstaltung in der Wirtschaftsmetropole Bombay – von der mondänen Modenschau bis zur Geburtstagsparty einer Buchhandlung – gehörte es nachgerade zum guten Ton, Teile des Erlöses den Opfern zufließen zu lassen. Zahlreiche private Hilfsorganisationen haben sich gebildet, die auf originelle Art Geld, Arzneien, Haushaltsutensilien, Nahrungsmittel, Kleider sammeln und diese den Opfern zukommen lassen.

Rasche Reaktion

Dieses Mal reagierte auch die Regierung rasch auf die Katastrophenmeldung. Bereits drei Stunden nach dem Beben begab sich Scharad Pawar, Chefminister des Staats Maharaschtra, ins Katastrophengebiet, und keine vierundzwanzig Stunden später waren zwei Brigaden der indischen Armee dort im Einsatz. Trotz einsetzender Regenfälle, trotz der unabwendbaren Flut von Schaulustigen und Politiker-Touristen gelang es den Hilfskräften, die Elektrizitäts- und Wasserversorgung rasch wieder herzustellen und die annähernd 200.000 Obdachlosen in provisorischen Wellblech-Zeltlagern unterzubringen, mit Kleidern zu versorgen und die Abgabe regelmäßiger Nahrungsrationen zu organisieren. Auch die Hilfeleistungen aus dem In- und Ausland, die sich zu Beginn gegenseitig zu blockieren drohten, werden inzwischen systematisch auf ihre Dringlichkeit geprüft, kanalisiert und verteilt. In einigen der betroffenen Dörfer kam es zu Fällen von Plünderungen, Zeitungen berichten auch von korrupten Beamten und einem Schwarzmarkt von Hilfsgütern, der sich in den Städten der Region entwickelt. Diese unvermeidlichen Begleiterscheinungen von Katastrophen und dem darauf einsetzenden Gütersegen halten sich aber offenbar in Grenzen.

Die Herausforderungen für eine langfristige Hilfe für die achtzigtausend Menschen, die alles verloren haben, ist enorm. Allein in Killari, einem der beiden Epizentren des Bebens, stehen noch ganze drei Gebäude, und 18.000 Bewohner, über die Hälfte von ihnen Verletzte, warten darauf, ein neues Heim zu bekommen. Ähnlich steht es mit den anderen 41 zerstörten Dörfern, von jenen, die dem Erdboden gleichgemacht sind, ohne viele Opfer zu beklagen, bis zu solchen, in welchen die Zahl der Toten so groß ist, daß die soziale Weiterexistenz der Dorfgemeinschaft infrage gestellt ist. In weiteren dreißig Dörfern haben die meisten Häuser Risse entwickelt, und deren Einwohner – über 100.000 Menschen – weigern sich zurückzukehren; anhaltende kleinere Beben sind nicht dazu angetan, ihre Meinung zu ändern.

Das Erdbeben ereignete sich in der Nacht, welche dem Höhepunkt des Ganpathi-Festes folgte, in dem die Statue des populären Elefantengottes Ganesch überall im Staat in ein Gewässer – Meer, Fluß oder Dorfteich – getaucht wird, eine symbolische Geste der Rückkehr des Göttlichen in seine außerirdische Existenz. Dieses Jahr schlugen die Festlichkeiten noch höhere Wellen, weil gute Monsunregen, zum ersten Mal nach zwei Jahren der Trockenheit, eine gute Ernte versprachen. Man nimmt an, daß die Müdigkeit der tagelangen Ausgelassenheit viele Menschen durch die ersten Vorbeben weiterschlafen ließ, statt sie die Sicherheit des Freien suchen zu lassen.

Insgesamt sollen nahezu 30.000 Häuser gebaut werden, und die Kosten werden von Chefminister Scharad Pawar auf über 300 Millionen Dollar geschätzt, wenn man die sich aufdrängenden Schutzmaßnahmen bei unbeschädigten Installationen wie etwa Staudämmen einbezieht. Die Hälfte davon wird von der Regierung bereitgestellt. Und für die restlichen 150 Millionen hofft Pawar auf die Geldhilfe internationaler Institutionen und ausländischer Regierungen sowie eine Ausweitung der Patenschaften, mit welchen sich Industriefirmen, Parteien und private Hilfsorganisationen zur Wiederansiedlung ganzer Dörfer verpflichtet haben. Auch die Weltbank hat einen weichen Kredit zur Instandsetzung der Infrastrukturen in Aussicht gestellt, dessen erste Tranche bereits freigestellt worden sei. Bernard Imhasly