Pilgerfahrt zum Mayster

Die Karl-May-Gesellschaft tagte in der sächsischen Heimat des Schriftstellers  ■ Von Herrn Thömmes

Oh, diese Mauer! Hüben wurde mit Eifer durch die Karl-May-Gesellschaft (KMG) das literarische Werk erforscht, doch drüben lagen die Kultstätten: Geburtshaus, Villa Shatterhand, Grab. Natürlich wurde die erste Gelegenheit von den wissenschaftlichen Spurensuchern wahrgenommen, an historischem Ort zu tagen. Ganz nah seinem Leben und Schaffen, ach!

So standen dann an einem sonnigen Samstag im Oktober bald 200 Menschen auf dem Friedhof von Radebeul und schauten auf ein Grabmal mit vier ionischen Säulen: Nachbildung des Athener Niketempels in hellem Sandstein, gut fünf Meter hoch. Kränze wurden gemessenen Schritts herbeigetragen, Kameras klickten, Videos schnurrten. Vorn stand mit hochgewachsener, imposanter Gestalt der KMG-Vorsitzende Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Claus Roxin (62), die Nase in Farbe und Form einer unreifen Erdbeere gleich, und sprach: „May ruht nicht nur hier, sondern auch in seinen Büchern.“

Die kennt nun jeder anständige Mayologe aus dem Effeff, doch die Wissenschaft stand eben nicht allein bei diesem historischen Kongreß zu Dresden: Auf vier Tage verlängert wurde er eigens, um die Pilgerfahrt ins nahe Radebeul möglich zu machen, wo das „gräßliche Mischwesen“ (Arno Schmidt) schrieb und nach einer Lungenentzündung verschied. Ah, wandeln auf des Maysters Fährten, oh Herz, blüh auf!

Sehen Sie hier den Gasthof „Goldene Weintraube“, in dem er bisweilen ein Gläschen trank. May soll, einem Gerücht des schurkischen Journalisten Rudolf Lebius zufolge, darin einen Diebstahl begangen haben. Was nicht richtig war und vom Wirt umgehend bezeugt wurde, nur: Im letzten Lebensjahrzehnt hatte May mehr vor Gericht zu kämpfen als gegen Kiowas oder Tuaregs. Das verzehrte ihn, denn Lebius & Co. waren im Aufbauschen seiner Vorstrafen und Hochstapeleien nicht weniger phantasievoll als er selbst.

Oder dort, die Villa Agnes, eines von vier Radebeuler Häusern, die er bewohnte. Die Anbauten links und rechts standen damals noch nicht. „Der Ölprinz“ etwa wurde hier geschaffen und, kleine Anekdote am Rande: Als vor Jahren für die Sendung „Außenseiter – Spitzenreiter“ unangemeldet ein Indianerüberfall auf die Villa gedreht wurde, brachen bei den Bewohnern Angst und Schrecken aus. Was für Memmen!

Oder hier, die Lößnitz etwa, die heute als dürftiges Rinnsal durch Radebeul fließt: Für Karl May war sie nicht weniger als „mein Mississippi“. Fürwahr, der Mann hatte eine üppig blühende Phantasie: Fremde Sprachen wollte der Sachse gleich dutzendweise perfekt geschrieben und parliert haben, dabei war für Arno Schmidt allein schon „sein Englisch herzschneidend erbärmlich“.

Mehr und mehr wuchsen die „Wunschtraumgebilde“ (A. Schmidt) des Schriftstellers, bis er sich gar zu der Behauptung verstieg: „Ich bin wirklich Old Shatterhand resp. Kara Ben Nemsi und habe erlebt, was ich erzähle.“ Was machte es schon, daß May (1842 bis 1912) damals kaum Sachsen verlassen, geschweige denn ferne Länder besucht hatte. Und um seine Münchhausiaden zumindest teilweise zu materialisieren, ließ er heimlich von einem Büchsenmacher die Wunderwaffen seiner Helden nachbauen: Henrystutzen, Silberbüchse und Bärentöter waren fortan im Mayschen Heim zu bestaunen.

Seinem Erfolg konnten die dilletantischen Schwindeleien nichts anhaben, weder zu Lebzeiten noch posthum: Der „Phönix der Verkitschtheit“ (A. Schmidt) ist der meistgelesene deutsche Autor. Über 80 Millionen Exemplare hat alleine der Karl-May-Verlag (KM- Verlag) verkauft, gute zwei Drittel davon in den letzten 30 Jahren. In mehr als 30 Sprachen wurden seine Geschichten übersetzt, Japaner sitzen ebenso mit an Winnetous Lagerfeuer wie Vietnamesen.

Längst ist der von vielen als trivial geschmähte Erzähler nicht mehr nur Objekt seiner Leser. Seit Gründung der Karl-May-Gesellschaft (KMG) 1969 wird geforscht, gründlichst und interdisziplinär. Ob Hans Wollschläger („Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt – Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays“), der Jurist Claus Roxin („Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays“) oder der Germanist Prof. Heinz Stolte („Mein Name sei Wadenbach – Zum Identitätsproblem von Karl May“) – in den „Jahrbüchern“ der KMG wird stets das Neueste zu Wesen und Werk des Maysters veröffentlicht. Und mit 1.700 Mitgliedern ist die KMG einer der rührigsten Literaturvereine überhaupt.

Lassen Sie uns nun, nach einem letzten Blick von den Weinbergen der Lößnitzhöhe, hinuntergehen zur „Villa Shatterhand“, seiner letzten Wohnstatt und heutigem Museum. Neben Handschriften und alten Ausgaben der Erzählungen sind die drei berühmten Flinten zu sehen; und weiter hinten im Garten, im Blockhaus „Villa Bärenfett“, eine Ausstellung indianischer Kultur. Wer Hunger verspürt, kann in „Sam's Saloon“ seine Pommes mit „Karl-May-Jubiläums-Pilsener“ oder „Winnetou- Sekt“ runterspülen.

So stilvoll wurde hier des Maysters Erbe nicht immer gepflegt. Ehe er Anfang der 80er im kulturellen Erbe der DDR aufging und als Antiimperialist entdeckt wurde, war er als kleinbürgerlicher Schundschreiber geächtet. Bis 1984 war die „Villa Shatterhand“ ein Kindergarten, dann endlich hatte er „die humanistische Grundposition, auf die unsere sozialistische Gesellschaftsordnung gesteigerten Wert legt“ (Katalog von 1988).

Nicht anders im Westen: Erbittert wird seit langem ums literarische Werk gestritten. Die grün- güldene Volksausgabe (KM-Verlag) nämlich, die in fast jedem Bücherregal steht, ist für Mayologen der Super-GAU. „Bearbeiter“, wie die Textmeuchler verächtlich genannt werden, haben in den Urschriften aufs wildeste gekürzt, umgestellt, vereinfacht, Namen geändert; oder, wie zur Nazizeit, ideologisch beackert. „Da ist oft kaum ein Wort auf dem anderen geblieben, es gibt Bände, in denen die Textverderbnis ein Ausmaß erreicht hat, daß die Autorschaft Mays zu unterstellen schon an die Bosheit Old Wabbles erinnert“, wettert etwa der Literaturwissenschaftler Gert Ueding.

Allein im „Winnetou I“ wurden 11.000 (sic!) Varianten zur Erstausgabe gezählt (Pierre Brices Filmtexte sind sowieso nicht frei nach, sondern frei von Karl May). Inzwischen jedoch sind Mays Schriften in authentischer Form bei mehreren Verlagen zu kaufen (Haffmans, Neues Leben), und die Gralshüter Wollschläger und Hermann Wiedenroth geben weiter eine historisch- kritische Bibliotheksausgabe heraus. Selbst der KM-Verlag zeigt späte Einsicht: Mit „Sklaven der Schande“ erscheint erstmals ein Band in unbearbeiteter Form.

Nun könnte man glauben, das alles sei doch ziemlich übertrieben und die Mitglieder der Karl-May- Gesellschaft wären verwirrte Sonderlinge. Oh nein! Sie sind nur wie der Mayster für Arno Schmidt selbst: „Neurotiker wie wir alle.“