Die eigene Nation als unschuldiges Opfer

Der letzte Teil der taz-Serie zur Bedeutung von Geschichte in Osteuropa versucht eine Gesamtschau: Warum wurden nach den demokratischen Revolutionen des Jahres 1989 mehr und mehr nationalistische Traditionen wiederbelebt?  ■ Von Erhard Stölting

Eine neue Gesellschaft braucht, um präsentabel zu sein, ein neues historisches Kostüm, in Krisenzeiten nimmt die „Erinnerungsarbeit“ zu. In Osteuropa ist dafür der Topos einer „Rückkehr in die Geschichte“ gebräuchlich geworden. Diese Rückkehr aber war bislang kaum idyllisch. Es ist nicht der Traum eines multikulturellen Kulturraumes, der Wirklichkeit wird, sondern der Alptraum homogener Nationalstaaten, die an vorkommunistische Zeiten anknüpfen. Mit Feiertagen, Briefmarken und Straßennamen werden frühere autoritäre oder faschistische Regime und Bewegungen geehrt.

Angelpunkt einer Erklärung könnte der in der Romantik wurzelnde osteuropäisch-deutsche Begriff der Nation selbst sein. Nationen werden danach primär durch Sprache und Kultur geformt und in Analogie zu wirklichen menschlichen Subjekten gedacht: Sie denken, fühlen, erinnern sich. Diese Nationen wählen sich ihre politische Form, den Nationalstaat. In ihm können sie Minderheiten dulden, solange sie sich respektvoll verhalten. Aber die Geduld ist nicht grenzenlos.

Als moderne Subjekte benötigen die Nationen natürlich auch eine „Identität“, die in lebensgeschichtlicher Erinnerung gebildet wird. Die vorgebliche gemeinsame Erinnerung kann dann zur Erklärung politischen Handelns herangezogen werden: Das serbische Volk erinnert sich an die Niederlage auf dem Amselfeld (1389) und an die Greuel der Deutschen, Kroaten und Muslime im Zweiten Weltkrieg und muß nun durch finale Gegenwehr einer Wiederholung vorbeugen.

Da auch in Osteuropa die Geschichtskenntnisse selektiv sind, bedarf es besonderer Instanzen, Personen und Institutionen, die die geschichtliche Erinnerung organisieren. Ihr wichtigster Adressat ist ein Publikum, das in nationalem Bewußtsein geeint werden soll. Das setzt aber voraus, daß das Publikum zuhört und glaubt. Das Erzählte muß ihm – nicht Außenstehenden – plausibel erscheinen. Für die Plausibilität jedoch gibt es einige Regeln. Deren wichtigste sind erstens, daß die eigene Nation unschuldiges Opfer ist, vielleicht auch seit Jahrhunderten war. Zweitens müssen Übelstände identifizierbaren Bösewichten zugeschrieben werden – zum Beispiel den Kommunisten, den Juden, den Freimaurern, den Serben, den Zigeunern. Drittens ist die Identifikation mit der eigenen Nation nur dann angenehm, wenn sie den Vorteil psychischen Wohlempfindens mit sich bringt. Die Möglichkeit, stolz zu sein, weil man Slowakin, Estin, Abchasin ist, gehört zu den Minimalbedingungen der Plausibilität.

Die nationale Denkform ist allerdings nur ein Faktor, der die „historische Erinnerung“ in Osteuropa formt. Ein zweiter ist das Verhältnis zur sozialistischen Epoche. Erst nach dem Ende dieses „historischen Frendkörpers“ können geschichtliche Zusammenhänge und Traditionen wieder reklamiert, betont und demonstriert werden. Nun herrschten mit Ausnahme der Tschechoslowakei überall im Osteuropa der Zwischenkriegszeit autoritäre und nationalistische Regierungen unterschiedlicher Repressivität. An sie anzuknüpfen und sich zugleich von ihnen zu distanzieren überfordert aber gewiß das Publikum; einfache und eindeutige Verhältnisse wirken überzeugender. Entweder die Zeiten waren gut, oder sie waren schlecht. Wenn der Kommunismus schlecht war, mußte sein Gegenteil gut sein.

Die osteuropäischen Bemühungen um eine historische Identität werden im Westen aufmerksam verfolgt. Die westliche liberale Öffentlichkeit reagiert aber anders als das osteuropäische Publikum; und diese Reaktionen werden in Osteuropa wahrgenommen.

Die Bereitschaft, auf westliche Urteile Rücksicht zu nehmen, ist vorhanden; es sei denn, es kommt zu antiwestlichen Trotzreaktionen. Aber auch sie beweisen Aufmerksamkeit: Oft vollzieht sich der Rückgriff auf die Symbolik autoritärer Vorkriegsregime mit einer gewissen Verlegenheit. Wo problematische Traditionen zitiert werden, geschieht dies selten ganz affirmativ, sondern eher verharmlosend. Die dunkle Seite der Geschichte wird nicht verklärt, sondern ausgeblendet.

Es gibt also Unsicherheiten und zuweilen Ratlosigkeit. Die Kriterien, nach denen die westliche Öffentlichkeit urteilt, sind noch nicht völlig erkannt. Zumal Widersprüche stören: Die Tolerierung von Minderheiten wird im Westen zwar als Prinzip verkündet, dieses spielt dann aber doch keine große Rolle. Ethnische Säuberungen werden laut verurteilt, aber letztlich doch gebilligt. Wenn es heute legitim ist, gewaltsam einen homogenen Nationalstaat anzustreben, warum sollte es früher illegitim gewesen sein, und umgekehrt?

Eines der wirklich entscheidenden Kriterien ist das Verhältnis zum Antisemitismus und zu Deutschland. Noch die Nürnberger Prozesse hatten primär über die deutschen Kriegsverbrechen geurteilt. Heute ist klar, daß der Holocaust den Nationalsozialismus definiert. Damit hat sich auch in Deutschland der Akzent von den Kriegsverbrechen auf den Holocaust verschoben. Diese Verschiebung ist für den westlichen Argwohn gegenüber den neuen östlichen Geschichtsdeutungen wichtig.

Zwar hatte es Antisemitismus überall in Osteuropa gegeben, aber der Holocaust war doch eindeutig ein deutsches Verbrechen, und seine moralischen Folgen könnten damit als ein exklusiv deutsches Problem gesehen werden. Aber die verstärkte Aufmerksamkeit für den Holocaust hat im Westen die Sensibilität gegenüber dem Antisemitismus generell geschärft, auch wenn die Deutschen Kern des Problems bleiben. Diese geschärfte Sensibilität fehlt in Osteuropa noch weitgehend oder wird eben erst erlernt.

Ein zweites, damit zusammenhängendes unumgehbares Kriterium ist die historische Bestimmung des Verhältnisses zu Deutschland. Hier sind die Signale scheinbar widersprüchlich. Auf der einen Seite scheint das heutige Deutschland ein wirtschaftlich und politisch mächtiges Land zu sein, das international respektiert wird. Auf der anderen Seite ist im westlichen Deutschlandbild die Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Holocaust bestimmend geblieben; die deutsche Politik und die deutschen Zustände wurden immer auf der Folie der verbrecherischen Vergangenheit gesehen, auch wenn sich die Urteilskriterien verschoben. Die Vereinigung und das rassistische Klima, das mit ihr zum Durchbruch gelangte, haben den Argwohn erheblich verstärkt.

Indirekt hat das auch für Osteuropa Auswirkungen. Mit dem Ende des Kalten Krieges tauchen in den historischen Rekonstruktionen die Fronten des Zweiten Weltkrieges wieder auf. Auf subtile Weise liefert so das Verhältnis zu Deutschland Kriterien für eine positive oder negative Einschätzung der historischen Selbstdarstellung des eigenen Landes.

Das wurde im jugoslawischen Konflikt besonders deutlich. Genschers Unterstützung hat Kroatien mindestens ebenso geschadet wie der Rückgriff auf Symbole des Ustascha-Staates. Die Behauptung, das deutsche „Vierte Reich“ und seine faschistischen Vasallen Österreich, Slowenien und Kroatien planten einen Genozid an den Serben, wurde im Westen zwar nicht geglaubt, aber sie weckte Verständnis.

Die Bedeutung, die das Verhältnis zum Antisemitismus und zu Deutschland als Kriterien der politischen Beurteilung der westlichen Öffentlichkeit hat, macht es wahrscheinlich, daß das im Moment wahrnehmbare Herunterspielen der deutschen Besatzungszeit und der Kollaboration in Osteuropa nicht lange anhalten wird; die antidemokratischen Ambivalenzen im Geschichtsbild jener Länder, die einst mit Deutschland verbündet waren oder die ihre Unabhängigkeit in die Tradition autoritärer oder faschistischer Bewegungen stellen, werden verschwinden. Für eine demokratische Entwicklung könnte zumindest dieser Faktor optimistisch stimmen.

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