Ungeboren und schon todkrank

In Brasilien kommen immer mehr Babys mit dem Aids-Virus zur Welt. Der Grund: Die heimliche Bisexualität der Väter. Die Klinik „Gaffre e Guinle“ in Rio de Janeiro betreut 250 HIV-infizierte Kinder  ■ Aus Rio Astrid Prange

Wer stirbt zuerst? Vater oder Tochter? Marco Antonio Tavares hofft auf ein Wunder. Der 28jährige weiß, daß seine Tage gezählt sind. Doch an die tödliche Infektion seiner Tochter Ana Carolina will er nicht glauben. Die Dreijährige hockt auf einer Pritsche im Krankenhaus „Gaffre e Guinle“ in Rio de Janeiro. Die Windpockennarben auf ihrer zarten Babyhaut sind beinahe verheilt, sie sieht gesund und munter aus.

Bei ihrem Vater hingegen sind die Folgen der Immunschwäche bereits deutlich sichtbar. Der ehemalige Leibwächter ist innerhalb eines Jahres von 90 auf 75 Kilogramm abgemagert, seine Haut ist mit einem roten fleckigen Ausschlag überzogen. „Meine Frau hat den HIV-Virus durch mich bekommen. Ich habe einfach nicht an das Testergebnis geglaubt“, meint er niedergeschlagen. Jetzt wartet Marco Antonio Tavares schon wieder auf ein Testergebnis. Er kann sich einfach nicht damit abfinden, daß wahrscheinlich auch seine Tochter an der Immunschwäche leidet.

Die Chance, daß Ana Carolina dem Schicksal ihrer Eltern entkommt, ist minimal, doch ihr Vater klammert seine Hoffnungen just an die Ausnahmefälle in der Statistik. Zwanzig Prozent der Kinder von aidsinfizierten Müttern werden in Brasilien gesund geboren. Die HIV-Antikörper der Mutter, die in den Blutbahnen der Neugeborenen zirkulieren und das positive Testergebnis hervorrufen, können in den ersten drei Lebensjahren wieder verschwinden. Für eine endgültige Diagnose sind deshalb mehrere Tests über einen längeren Zeitraum hinweg sowie intensive medizinische Betreuung erforderlich.

Kinderärztin Norma Rubini, die im Universitätskrankenhaus „Gaffre e Guinle“ seit 1986 aidsinfizierte und aidskranke Kinder betreut, zögert zuweilen ein Testergebnis bewußt hinaus. Im Fall von Ana Carolina hat sie die Aussprache auf die nächste Woche verschoben. Die Schlange vor ihrem Mini-Sprechzimmer ist einfach zu groß. Für ein Gespräch unter vier Augen ist an diesem Montagmorgen keine Zeit.

Norma Rubini gehört zu den wenigen Kinderärzten in Brasilien, die sich auf Aids spezialisiert haben. Mindestens acht Kinder behandeln sie und ihre sechs Doktorandinnen jeden Vormittag in dem öffentlichen Krankenhaus. Die Immunschwäche bei Kleinkindern ist für sie schlicht eine chronische Kinderkrankheit mehr.

Norma Rubinis Einstellung wirkt auf die Eltern ihrer Patienten beruhigend. Viele Eltern, die in die Sprechstunde der Kinderärztin kommen, genießen das „vorurteilsfreie Klima“.

„Gaffre e Guinle“ verfügt mit 5.500 Blutproben HIV-positiver Patienten über das größte Blutproben-Arsenal Lateinamerikas. In dem auf Aidsforschung spezialisierten Krankenhaus werden 250 Kinder und 1.500 Erwachsene behandelt, die an der Immunschwäche leiden. Die Anzahl der jungen Patienten, so Norma Rubini, verdoppelt sich jedes Jahr.

„Die Vorstellung, daß Aids im Bereich der Kinderheilkunde eine unwichtige Rolle spielt, ist absolut überholt“, erklärt die 39jährige. Norma Rubini ist davon überzeugt, daß die Immunschwäche in den kommenden Jahren erheblich zur Erhöhung der Kindersterblichkeit beitragen wird.

In Brasilien wurden nach Angaben des nationalen Gesundheitsministeriums von 1980 bis einschließlich Juli 1993 1.189 HIV-infizierte Kinder registriert. Weltweit liegt die Zahl der unter 15jährigen, die an der Immunschwäche leiden, nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO bereits bei einer halben Million. Rund 80 Prozent der aidsinfizierten Kinder leben in Entwicklungsländern.

Die Verbreitung des HIV-Virus hat in ganz Brasilien zur Einrichtung von vier nationalen Aids- Zentren geführt. Neben dem Universitätskrankenhaus „Gaffre e Guinle“ in Rio haben sich auch öffentliche Krankenhäuser in Recife, São Paulo und Porto Alegre auf die Behandlung von HIV-Patienten spezialisiert.

Für die Ausbreitung der Krankheit wird in Brasilien in erster Linie die Bisexualität verantwortlich gemacht. „Besonders verheiratete Frauen sind gefährdet“, meint Carlos Alberto Morais e Sa, ebenfalls Aids-Forscher in „Gaffre e Guinle“. Die Ehemänner würden ihr bisexuelles Verhalten vor ihrer Frau geheimhalten. Daher liege der Anteil der Brasilianerinnen, die sich den Virus durch heterosexuellen Geschlechtsverkehr zuziehen, heute bei 54 Prozent. Vor sechs Jahren wurden auf diese Weise erst ein Viertel der Frauen angesteckt.

Die Tendenz spiegelt sich auch in der Statistik Norma Rubinis wider. Von den 250 Kindern, die sie seit 1986 betreut, haben sich lediglich 25 Babys den HIV-Virus durch eine Bluttransfusion zugezogen. Die überwältigende Mehrheit, 85 Prozent, wurde bereits im Mutterleib infiziert. Im Jahre 1987 waren es nur 29 Prozent.

Jairo Silva da Cunha ist ein typischer Fall. Seine Mutter Edilma traf ihren Partner mit einem anderen Mann im Bett an. Als sie die Scheidung einreichte, wußte sie weder, daß sie im vierten Monat schwanger, noch, daß sie bereits HIV-infiziert war. „Ich wußte noch nicht einmal, was Aids ist“, erklärt die heute 34jährige, bei der die Krankheit noch nicht ausgebrochen ist.

Edilma Silva da Cunhas Ahnungslosigkeit hat die Überlebenschancen des kleinen Jairo drastisch verkürzt. „Bis zu seinem achten Lebensjahr habe ich nichts gemerkt“, schwört sie. Jairo habe lediglich mehr Lungenprobleme und Fieberanfälle gehabt als die anderen Kinder in seinem Alter. Kinderärztin Norma Rubini gibt dem neunjährigen Jungen mit den tiefliegenden Augen und den Armen aus Haut und Knochen noch sechs Monate. Edilma Silva verschließt Augen und Ohren: „Gott vermag alles. Wenn er meinen Sohn heilen will, heilt er ihn. Wenn er ihn zu sich nehmen will, ruft er ihn“, glaubt sie, und damit ist die Diskussion für sie abgeschlossen.

Die massive Ausbreitung von Aids in Brasilien hat der Krankheit bei der täglichen Behandlungspraxis dennoch den Todesschleier genommen. „Früher wurden aidskranke Patienten schlicht als Todgeweihte behandelt, für die nur noch wenig getan werden konnte“, erinnert sich Norma Rubini. Heute sei es dank Forschung und Medikamenten möglich, die Lebensqualität der Patienten zu verbessern als auch ihre Überlebensdauer zu verlängern.

„Aidskranke Kinder dürfen nicht wie Patienten im Endstadium behandelt werden, sondern wie andere Kinder mit einer chronischen Krankheit auch“, stellt die Kinderärztin klar. Stolz verweist sie darauf, daß die Lebensdauer ihrer Patienten auf demselben Niveau liegt wie in den reichen Industrieländern. Von ihren bisher insgesamt 250 Patienten sind noch 216 Kinder am Leben.

Dem elfjährigen Wando Soares Costa muß Norma Rubini jeden Monat bescheinigen, daß er noch am Leben ist. Seine Mutter Diva braucht das ärztliche Attest, um von der staatlichen Gesundheitsversicherung INPS die monatlichen Kosten für Medikamente und Lebensmittel rückerstattet zu bekommen. Das Recht auf die Pension hat sich die Mutter von sieben Kindern vor Gericht erkämpft. Denn Wando bekam die Immunschwäche im Alter von elf Monaten durch eine Bluttransfusion in die Adern gespritzt. Tatort: „Hospital da Lagoa“, öffentliches Krankenhaus in Rio, das von der INPS unterhalten wird.

Die Pension ermöglicht es Wando, jeden Monat eine Dosis von 200 Millilitern Antikörpern einzunehmen, die seine Abwehrkräfte erheblich steigern. Zahlen kann keiner der Eltern der aidsinfizierten Kinder selbst. Eine Packung des Mittels „Sandoglobulina“ beispielsweise kostet 500 US- Dollar. „Die letzten zwei Jahre hat die Gesellschaft Viva Cazuza (Cazuza – ein brasilianischer Rocksänger, der 1991 an Aids starb) die Kosten für 40 Patienten übernommen. In diesem Jahr hat der Rotary-Club 5.000 Dollar gespendet“, erklärt Norma Rubini.

Zur Zeit hält sich „Gaffre e Guinle“ mit Spenden über Wasser. Im Notfall bittet Norma Rubini besser ausgerüstete Krankenhäuser wie die Aids-Zentren in Porto Alegre und São Paulo um lebenswichtige Medikamente. Wenn auch dieser letzte Notnagel verbraucht ist, muß sich jeder selber durchschlagen. Mit anderen Worten: „Die Kinder mittelloser Eltern, die bereits durch schlechte Ernährung benachteiligt sind, sterben schlicht und ergreifend früher“, sagt die Kinderärztin.

In diesem Licht erscheint der elfjährige Wando Soares Costa als Glückspilz. Seitdem ihm die INPS- Pension die monatliche Einnahme der Globuline garantiert, hat er lediglich einmal im Jahr mit Lungenentzündung zu kämpfen. Angesichts der 22 Lungenentzündungen, die er bereits hinter sich gebracht hat, ist dies eine Wohltat. Abgesehen von den regelmäßigen Besuchen bei Kinderärztin Norma Rubini lebt Wando ein normales Leben. Seine Vormittage verbringt er in einer heruntergekommenen Volksschule. Nachmittags spielt er mit den Nachbarskindern Fußball auf einer Staubstraße des Rio-Vororts Belford Roxo.

Für Jonathan Luiz de Oliveira hingegen schien die Möglichkeit eines normalen Lebens von Geburt an ausgeschlossen. Der dreijährige Sohn eines Epileptikerehepaares wurde mitten auf der Straße geboren und verbrachte die ersten Stunden seines Lebens zwischen Hunden und Katzen auf dem verdreckten Asphalt. „Jonathan wog 1,5 Kilo“, erinnert sich seine Adoptivmutter Carmen Lucia de Oliveira. „Er wäre an Hunger gestorben, nicht an Aids.“

Die 31jährige wußte nicht, daß der Neugeborene mit dem HIV- Virus infiziert war. Auch der Arzt schöpfte trotz anhaltenden Durchfalls zunächst keinen Verdacht. Erst als er eineinhalb Jahre alt war, beschloß Carmen Oliveira, Jonathan einem Aidstest zu unterziehen. Seitdem dreht sich in der fünfköpfigen Familie alles nur noch um ihn. „Beim Adoptivkind ist die Liebe anders, größer, weil man es ja gewollt hat und dafür kämpfen mußte“, lautet die Erfahrung Carmen Oliveiras.

Carmen Oliveira weiß, daß sie ihren Sohn überleben wird. Jeder Tag, den Jonathan glücklich verbringt, läßt sie aufatmen. Mit der ungewissen Zukunft kann sie leben, nicht jedoch mit der Diskriminierung in der Gesellschaft. Nach drei Jahren Kampf gegen Ignoranz und Vorurteile hat sie sich entschlossen, den Spieß umzudrehen: „Ich will, daß Jonathan nur mit Kindern spielt, die ihn akzeptieren. Andere Kinder in seiner Nähe dulde ich nicht.“