Kurzweiliges zum historischen Glücksfall

Helmut Kohl gab gestern im Berliner Reichstag der Enquetekommission zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit die Ehre / Moderate Fragen, souveräne Antworten  ■ Von Matthias Geis

Berlin (taz) – „Wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte“. So jedenfalls lautet die Kanzlerversion des berühmten Gorbatschow-Zitates, die Helmut Kohl gestern im Berliner Reichstag zum besten gab. Daß er da „Leben“ mit „Geschichte“ verwechselte, sagt nichts über sein Gedächtnis. Denn beim Kanzler bewegen sich Leben und Geschichte unaufhaltsam aufeinander zu und manchmal fällt beides eben zusammen: Er mit Gorbatschow und bei Mondenschein im Kanzleramtsgarten, wo er dem Sowjetreformer die deutsche Einheit prophezeit. Oder – unangenehmer – er mit Walter Momper vor dem Schöneberger Rathaus, wo, angesichts des Mauerfalls, der Kanzler schon fest an die Wiedervereinigung denkt, der Regierende jedoch, völlig daneben, von „Wiedersehen“ redet. Oder – auch unangenehm – mit Modrow im Auto, aber umflutet von den Dresdner Landsleuten und ihren Transparenten: „Wir sind ein Volk“. – Kohl, damals wie heute: „Als wir aus dem Flugzeug stiegen in Dresden, war klar, die Sache ist gelaufen.“

Nein, wenn Helmut Kohl, wie gestern im Reichstag, ein paar Begebenheiten aus seinem Leben erzählt, fällt immer auch was für die Zeitgeschichte ab. Zu fürchten braucht sich der Kanzler nicht, vor der Enquetekommission des Bundestages, die ihn zur Rolle seiner Deutschlandpolitik und damit zur Mitverantwortung des Westens für das Regime im Osten befragte. „Befragte“ ist vielleicht doch etwas zuviel gesagt. Eher wurde, entlang dem Parteienproporz, dem Kanzler fürs Kommen gedankt.

„Auseinandersetzungen werden unvermeidlich sein“, hatte einleitend noch der Kommissionsvorsitzende Eppelmann ein bißchen prahlerisch den Lauf der Veranstaltung vorweggenommen. Statt dessen präsentierte sich Kohl bester Laune, und keiner wollte sie ihm verderben.

Lediglich der Abgeordnete Keller (PDS, natürlich), versuchte, den Kanzler, unter Bezugnahme auf diverse SED-Akten und auch sonst ein wenig weit hergeholt, in die Enge zu treiben: Wollte nicht auch die Union, ähnlich wie zuvor die SPD, mit der SED ein gemeinsames Grundsatzpapier verabschieden? – Soll Kohl bei solchen Unterstellungen wirklich aufbrausen? „Nein, das gab es nicht.“ Aber etwas zu den „unappetitlichen“ Quellen kann er noch sagen: „Wenn ich frei entscheiden könnte, wüßte ich, was ich mit den Akten tun würde.“

Doch Kohl entzieht sich nicht. Die Fragen, die sich stellen, beantwortet er unaufgefordert – zur Kontinuität der sozialliberalen Deutschlandpolitik auch unter seiner Regierung, zum Staatsbesuch Honeckers 87 in Bonn, oder zur Ernsthaftigkeit des Bekenntnisses zur Wiedervereinigung bei gleichzeitig besten Kontakten zum Regime. Die Fortführung der Deutschlandpolitik gesteht er unumwunden zu. „Erleichterungen für die Menschen“ seien ohne die Kontakte und ohne die finanzielle Unterstützung der DDR eben nicht zu haben gewesen. Und die so ermöglichten Begegnungen zwischen den Menschen in Ost und West werden im Rückblick gleichsam zu subversiven Momenten bei der Festigung des Bewußtseins der Einheit der Nation. Die Kontakte, waren notwendig, so Kohl, aber „im Prinzipiellen“, dem Ziel der Wiedervereinigung, habe er nie geschwankt.

So generös ist der Kanzler gestimmt, daß er die SPD dafür, daß sie „im Prinzipiellen“ wohl schon ins Wanken kam, nicht angreift. Er verlagert den eigentlichen Dissens auf die Haltung zum Nato-Doppelbeschluß. Den habe die SPD nicht mehr durchsetzen wollen. Doch ohne die feste Haltung des Westens gegenüber dem Warschauer Pakt, hätten sich, so Kohl, die Reformer in der Sowjetunion nicht durchgesetzt ... So werden auch die Pershing-Raketen zu Garanten der Wiedervereinigung.

Eine der „schwierigsten Entscheidungen“ sei der Honecker- Besuch gewesen. Doch während der seinerzeit als endgültige Anerkennung der Zweistaatlichkeit interpretiert wurde, zitiert Kohl gestern wieder die Passage aus seiner Tischrede, in der er, in der Tat eindeutig, am Ziel der Wiedervereinigung festhielt. Und dann zum Tête-á-tête mit Honecker: „Wer die Bilder sieht, wird erkennen, welche Gedanken einem da durch den Kopf gingen.“ Der Blick auf die historischen Photos lohnt wirklich.

Kohl gibt im Reichstag eine kurzweilige, streckenweise amüsante Vorstellung. Keine langatmigen Ableitungen, statt dessen viel Anekdotisch-lockeres. Fünf Stunden am Grenzübergang und dann als „unerwünschte Person“ zurückgewiesen. Oder, der „eisigste EG-Gipfel“ den er je erlebte, im November 89 nach dem Fall der Mauer: „Ich muß darüber heute nicht sprechen, weil das eine der charmantesten Damen der europäischen Politik“, gemeint ist Margaret Thatcher, „gerade getan hat.“

Fehler? – Aber natürlich: „Wir haben alle die ökonomische Lage der DDR falsch eingeschätzt, sind alle ein Stück der Propaganda anheimgefallen.“ Auch an der ablehnenden Haltung der Union zum KSZE-Prozeß will Kohl heute nichts Weitsichtiges mehr finden. Keine Überheblichkeit. Den vollen Eindruck, daß hier im Reichstag ein Sieger der Geschichte Revue passieren läßt, verstärkt das eher.

Da hat es im Anschluß Hans Jochen Vogel wirklich nicht leicht. Ihm gelingt ein präzises Rechtfertigungs-Stakkato. Aber es bleibt Rechtfertigung: Man wollte die Reformer in der SED stärken, der Opposition keine Illusionen machen, über die Möglichkeiten ihrer Unterstützung, dem Regime keine Vorwände für die Repression liefern. Alles vertretbare, gute Gründe. Und dennoch, authentisch klingt vor allem Vogels „herzliche Bitte, wir sollten uns nicht in Aufrechnungen verlieren“. Denn am Ende wird das alles nur „ein Streit über die Vergangenheit, der mir verzichtbar erscheint.“ Doch, während Vogel referiert, ist Kohl längst schon aus dem Reichstag entschwunden. Wer will denn streiten?