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SanssouciNachschlag

■ Die Urangst vor Rostflecken und anderes Alltagsgrauen

Das Mandelbrot tröstet. Der Umgang mit dem Chaos funktioniert als Allheilmittel der modernen Zivilisation, als Erkenntniskrücke, Wundererklärer und Mysterienbezwinger. Ähnlich wie die Ablaßregelung bei Sünden im Mittelalter. So lautet jedenfalls die Botschaft der in der Galerie eigen+art gezeigten Videoskulpturen von Maroan el Sani und Nina Fischer. Das Motto „Neue Produkte aus der Chaosforschung“ erinnert an den Werbezusatz „Neu aus der Raumfahrtforschung“ auf Kugelschreibern und Uhren aus den siebziger Jahren. Die Ergebnisse der Wissenschaft fließen ständig in neue Produkte ein, von denen sich einige gezielt an Käufer richten, die sich vom Chaos im Alltag bedroht fühlen, die am unkontrollierten Wesen des Staubes leiden, und am Rost, der sich, schicksalhaft wie einst die Pest, an das eigene Auto heftet.

Fischer und el Sani schnappten sich Verkaufsvideos aus dem Kaufhaus und arrangierten die Monitore auf Regalen wie Stonehenge-Felsen in der Galerie. Diese Videos locken jedoch nicht mit polierter Fetisch-Ästhetik. Das gnadenlose Ausleuchten von Roststellen, die sich chaotisch durch den Lack fressen, zwingen chaosverzweifelte Betrachter mit fahlen Videofarben auf den rauhen Boden des Alltags zurück. Dann wird das unkontrollierte Grauen mit Wunderlappen und Superschwamm entdämonisiert, die Natur gezähmt und dem Ordnungsprinzip unterworfen.

Das Bild des Schmetterlings, dessen Flügelschlag auf der anderen Seite der Erdhalbkugel einen Taifun auslösen kann, wird immer mehr zu einer modernen Allegorie unserer Hilflosigkeit. Hilflosigkeit gegenüber der ewigen Frage, ob alles auf der Welt durch Verkettung von Ursache und Wirkung vorbestimmt ist oder eben nicht. In einer Voliere der Galerie verweilt einer dieser zarter Erzeuger der vermeintlichen Apokalypse im Pazifik inmitten von Blumen und singt, mit ganz leisem Hohn, „Nichts ist unmöglich“ auf die aus einem TV-Werbespot bekannte Melodie. Gleich dahinter entspinnen sich bunte Mandelbrotmengen auf einem handtellergroßen LCD-Monitor – ungeklärt bleibt nur, wie dieser Fernseher als Buddelschiff in die Flasche kam.

Lautsprecher zischeln und wispern die Verkaufsbotschaften und Ordnungsparolen, wie auf Altäre muß der Galeriegänger zu den Monitoren hinaufblicken. Das Künstlerduo hat auch ein Schatzkästlein für Hobbyphilosophen mit skizziertem kybernetischem Modell bereitgelegt. Für den taktilen Warensex auch schön eingeschweißt. Die Ausstellung zeigt die romantische Verklärung des Unbekannten, aber auch, wie das Unbehagen gegenüber unergründlicher, nicht steuerbarer Natur ausgesetzt wird.

Weniger verspielt geht es auf der hinteren Ebene der Galerie zu: Birgit Brenner kommt gleich zur Sache und entmystifiziert das Thema Mensch. Eine kleine Liste vom Gewicht menschlicher Organe: Haut: 19 Kilo, Herz: 300 Gramm, Gebärmutter 45 Gramm und Gehirn 1.300 Gramm. Tritt-Wagen zeigen das Gewicht ohne Haut, Blut, Busen, Kopf und schließlich ohne Körper. Vor nylonstrumpfbehosten Geräten, die sich ständig spreizen und die Vorstellung von Weiblichkeit zynisch reduzieren, hängt das Kleinod der Ausstellung, eine voyeuristische Kontaktstelle: neben einem Telefon ist ein Video im Kleinstformat installiert, worauf in ständiger Wiederholung der Vorgang des Küssens und Lippennachziehens zu sehen ist – ein trauriger Anblick. Fernando Offermann

Noch bis zum 27. November in der Galerie eigen+art, Auguststraße 26, Mitte.

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