„Tatlin war kein Kommunist“

Wie man der Vollständigkeit halber die inneren Spannungen eines Werks aus dem Auge verliert – eine höchst traditionell präsentierte Retrospektive mit Werken von Vladimir Tatlin in der Düsseldorfer Kunsthalle  ■ Von Christiane Post

In der Kunsthalle Düsseldorf wird bis zum 21. November 1993 das Werk eines der bedeutendsten Künstler der russischen Avantgarde, Vladimir Jewgrafowitsch Tatlin (1885-1953), ausgestellt. Diese erste internationale Retrospektive wurde von Anatoli A. Strigalew und Jürgen Harten konzipiert und tritt mit dem Anspruch auf, ein möglichst vollständiges Bild vom Schaffen Tatlins zu vermitteln. Die Schwierigkeit, ein Werk zu präsentieren, dessen zentrale Arbeiten verloren oder zerstört worden sind, wurde seit der Ausstellung im Moderna Museet in Stockholm von 1968, die ohne ein einziges Original auskam, über Rekonstruktionen gelöst. In Düsseldorf ist darüber hinaus bewußt auf die Ergänzung der ausgestellten Arbeiten durch Fotografien verzichtet worden – was mit dem hier gewählten Präsentationskonzept auch unvereinbar gewesen wäre. Der als Werkverzeichnis angelegte Ausstellungskatalog bietet allerdings einen Gesamtüberblick.

Die Präsentation der 350 Exponate hält sich an tradierte museale Formen. Im Mittelpunkt der Ausstellung steht die Rekonstruktion des Turm-Modells. Das Original, Tatlins „Modell des Denkmals der III. Internationale“, das verlorenging, konnte durch eine perfekte Kopie ersetzt werden. Sie wurde 1992/93 von der „Werkstatt für Materialkonstruktion“ unter Dmitri N. Dimakow in Rußland erarbeitet. Innerhalb der bisherigen Rekonstruktionsbemühungen des Ausstellungsbetriebs und unter den zahlreichen Nachbildungen des Tatlin-Turms weist diese, in Superlativen beschriebene Rekonstruktion die größtmögliche Ähnlichkeit mit Fotografien des Originals von 1920 auf, die allerdings nicht ausgestellt sind.

Anzulasten ist der Präsentation des „Turms“ in der Kunsthalle, daß unter Ausblendung historischer Zusammenhänge dem „Denkmal der III. Internationale“ jeglicher politischer und ideologischer Gehalt entzogen wurde. Auch eine einzelne, formale Beschreibung des Turms durch Arthur Holitscher aus dem Jahre 1921, die wie ein Ausstellungsobjekt hinter Glas präsentiert wird, vermittelt als singuläre Stellungnahme davon nur wenig. Die in Düsseldorf betriebene Vermeidungsstrategie durchzieht die gesamte Ausstellung: Den Arbeiten Tatlins wird ein entpolitisierter, monographischer Werkcharakter unterlegt.

Die sich im Ausstellungskonzept widerspiegelnde Lesart Tatlins gipfelte am Eröffnungsabend in der plakativen Äußerung des Kunsthallenleiters Jürgen Harten: „Tatlin war kein Kommunist!“ Damit wurde weder auf eine Parteizugehörigkeit angespielt, noch ging es um eine antikommunistische Haltung; es wurde nur ein Klischee bemüht, um sich nicht mit dem Verhältnis Tatlins zur Politik auseinandersetzen zu müssen. Da die Ausstellungsmacher einem autonomen Werkbegriff zugetan sind, wird das Verhältnis von Kunst, Politik und gesellschaftlichem Auftrag nicht näher untersucht. Dabei hätte genau das geleistet werden müssen, da sich Tatlin seit 1917 und in den ersten nachrevolutionären Jahren intensiv für die Belange der Kunst in der neu zu errichtenden Gesellschaftsordnung einsetzte. Er hat sich selbst als den „ersten Künstler“ bezeichnet, „der sich bei der Sowjetmacht zur Arbeit meldete“. Das „Denkmal der III. Internationale“ steht in direktem Zusammenhang mit seiner Tätigkeit im Volkskommissariat für das Bildungswesen und der Durchführung des Plans der Monumentalpropaganda, die ihm oblag. Im Zuge dieser Tätigkeit entwickelte Tatlin als Monument der Oktoberrevolution ein architektonisches Denkmal, das – neben dem schwarzen Quadrat von Malewitsch – zum Symbol der russischen Avantgarde und zum Ausdruck gesellschaftlicher Utopie wurde: der Turmbau „Modell des Denkmals der III. Internationale.“

Ebenso wie vom Turm-Modell behauptet wird, es sei besonders authentisch, wird für die Ausstellung in Anspruch genommen, besonders umfassend in der Präsentation der Exponate zu sein. Dieser Anspruch auf Vollständigkeit löscht nicht nur die Frage nach der Auswahl der Exponate aus (laut Katalog gibt es noch weitere Relief-Konstruktionen), sondern läßt auch differenzierte Kategorisierungen vermissen. Einerseits werden Kostüm- und Bühnenentwürfe wie autonome Zeichnungen präsentiert, andererseits der für die Alltagsgegenstände gültige, universelle Anspruch durch die Art der Präsentation ins Bedeutungslose nivelliert. Aufgrund fehlender Kontextualisierung, unzureichender Informationsvermittlung und traditioneller Präsentation wird dem Betrachter eine rein ästhetische Rezeptionshaltung gegenüber dem Werk Tatlins aufgenötigt. Dazu kommt, daß Rekonstruktionen, Details von Arbeiten, Relikte oder Dokumentationsmaterialien neben Originalen präsentiert werden und nur mit Blick auf die Bildunterschriften als echt oder nachgemacht klassifiziert werden können. Im großen Raum der Kunsthalle sind beispielsweise acht gerahmte Konstruktionszeichnungen des Turms zu sehen, allerdings aus den Jahren 1987-1993; und zwischen dem originalen Eck-Konterrelief und dem rekonstruierten Eck-Konterrelief ist optisch keine Differenz auszumachen. Die Grenzen zwischen dem Authentischen und dem Nachgebildeten werden hierbei mehr verwischt als geklärt.

Mit dieser Retrospektive wurde versucht, durch Rekonstruktion und Ästhetisierung, ohne jeden ideologisch-inhaltlichen Kontext, eine Ausstellung lediglich entlang eines autonomen Werkbegriffs aufzubauen. Man hat den Eindruck, hier soll das Scheitern der russischen Avantgarde und der Utopietod in der bildenden Kunst am Beispiel Tatlins festgeschrieben werden.

Bis zum 21. November in der Städtischen Kunsthalle Düsseldorf. Anschließend in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden (11.12.93-6.2.94), in der Staatlichen Tretjakov-Galerie Moskau (März/April) und im Staatlichen Russischen Museum Sankt Petersburg. Zur Ausstellung erschien ein Katalog und eine Zusammenstellung der Vorträge anläßlich eines Tatlin-Symposiums 1989 in Düsseldorf. Beide Publikationen werden vom DuMont-Verlag auch im Buchhandel vertrieben.