Spekulationen über Jelzins „Rückzieher“

■ Die Entscheidung über Präsidentschaftswahlen liegt beim neuen Parlament

Moskau (wps/taz) – Die „Amtsmüdigkeit“ schien ihm keiner abzunehmen. Nur wenige Stunden nachdem Boris Jelzin sich am Samstag vormittag gegen vorgezogene Präsidentschaftswahlen und für ein Ende seiner politischen Karriere nach Ablauf der offiziellen Amtszeit im Juni 1996 ausgesprochen hatte, setzten weltweit die Spekulationen über diesen „Rückzieher“ ein. Schließlich hatte Jelzin mit der Bereitschaft zu vorgezogenen Wahlen die in- und ausländische Kritik an der Auflösung des Parlaments Ende September zu mildern versucht.

Eine „genaue Analyse der Äußerung Jelzins“ wollte das Washingtoner State Department vornehmen. Sollte Jelzin die Präsidentenwahlen tatsächlich verschieben, würde dies die US-Administration in große Verlegenheit bringen. Bill Clinton und Außenminister Warren Christopher hatten die Bereitschaft Jelzins, sich Neuwahlen zu stellen, als Beleg für „seine Treue zur Demokratie gewertet. Gleichzeitig erklärten Mitarbeiter der US-Regierung jedoch, daß es Hinweise gegeben habe, wonach Jelzin nicht bereit gewesen wäre, für eine volle zweite Amtszeit zur Verfügung zu stehen. Sie vermuten, daß Jelzin die Wahl verschieben will, um sich in dieser Frage noch nicht entscheiden zu müssen.

In Moskau wurden selbst enge Mitarbeiter des Präsidenten von den Äußerungen Jelzins am Samstag mittag überrascht. So hatte Sergej Filatow, der Chef der Präsidialkanzlei, nur eine Stunde zuvor erklärt, daß Jelzin die für Juni geplanten Präsidentenwahlen nicht verschieben würde. Gerade Jelzins Mitarbeiter sowie Mitglieder der Regierung waren es aber auch, die Jelzin nach dem Putschversuch im Oktober zu überzeugen versuchten, auf vorgezogene Neuwahlen zu verzichten. Beobachter vermuten, daß es einigen von ihnen darum ging, ihre eigene Ausgangsposition zu verbessern: Würden die Wahlen im Juni stattfinden und Jelzin erneut kandidieren, wäre nicht genug Zeit, sich selbst als Alternative zu präsentieren.

Die Anhänger des Präsidenten verweisen jedoch auch darauf, daß Jelzin nicht nur das erste demokratisch gewählte Staatsoberhaupt Rußlands ist, sondern auch bei dem Referendum im Frühling dieses Jahres einen erneuten Vertrauensbeweis erhalten habe. Somit gebe es keine „moralischen Verpflichtung“ zu Neuwahlen; die Ankündigung in den Putschtagen sei ein „erzwungener und unnötiger Kompromiß“ gewesen.

Zu einer völlig gegensätzlichen Einschätzung kamen erwartungsgemäß die Gegner Jelzins. Altkommunist Viktor Aksjutschtiz, Leiter der Christlich-Demokratischen Bewegung und einer der „Verteidiger“ des Weißen Hauses: „Wir haben schon immer gewußt, daß Jelzins Neuwahlangebot nur ein Trick war.“ In ihren Ansichten bestärkt sehen sich die Jelzin-Gegner durch jüngste Meinungsumfragen. Dabei bewerteten zwar 50 Prozent der russischen Bevölkerung die Arbeit Jelzins postiv, 61 Prozent vertraten jeoch die Ansicht, daß er nicht wiedergewählt werden solle.

Die Äußerung Jelzins von Samstag bedeutet jedoch nicht, daß die Wahlen tatsächlich erst 1996 stattfinden werden. Denn die Entscheidung über den Wahltermin soll, so hatte Jelzin wiederholt festgestellt, das neugewählte russische Parlament treffen. Wer dort jedoch die Mehrheit haben wird, ist ungewiß. So schien die Jelzin nahestehende Partei „Wahl Rußlands“, die bisher als einer der zukünftigen Wahlsieger galt, Schwierigkeiten zu haben, die für eine landesweite Beteiligung an der Wahl notwendigen 100.000 Unterschriften zu sammeln. Keine Probleme, die Hürde zu überspringen, hatte dagegen die konservative, von Kolchos- und Sochos-Leitern bestimmte „Agrarunion“ mit 500.000 Unterschriften.

Die Frist für die Sammlung der Unterschriften lief am Samstag ab. Von 35 registrierten Parteien und politischen Bündnissen gelang es 21, die Teilnahmeberechtigung für die Aufstellung einer Landesliste zu erlangen. So konnte die reformorientierte Partei „Einheit und Verständigung“ von Sergej Schachrai 220.000 Unterschriften, die Kommunistische Partei von Gennadi Sjuganow 187.000, die ultra- nationalistische Liberaldemokratische Partei von Wladimir Schirniowski 173.000 und die zentristische Bürgerunion von Arkadij Wolski 150.000 Unterschriften vorlegen. Sich landesweit an den Wahlen beteiligen können außerdem die „Frauen Rußlands“, die Ökologiebwegung „Zeder“ und die Bewegung der ehemaligen Afghanistan-Kämpfer „Würde und Nächstenliebe“. her