■ Neue Berliner Architektur
: Glashäuser ohne Aura und Geheimnis

„Glas“, schreibt Walter Benjamin in seinen „Illuminationen“, „ist ein hartes und glattes Material, an dem sich nichts festsetzt. Es ist zugleich ein kaltes und nüchternes, hinter dem es keine Geheimnisse gibt.“ Im Berliner Norden, in Karow, scheinen sich Benjamins Worte ein anderes Mal in Glasbausteinen für Wohnungen verfestigt zu haben: Inmitten einer niedrigen, zum Teil mit Lauben und Hüttchen verzettelten Siedlung, erstellten die Berliner Architekten Zillich & Engel zwei lange schmale Glasriegel für rund 170 Wohnungen, die scharf und schnittig den Kolonienwald von sich abtrennen.

Die Volumen der dreigeschossigen flachgedeckten Bauten ordneten die Architekten in einer rhombusartigen Form an. So liegen die gläsernen Kuben wie um einen imaginären Anger – wohl in Korrespondenz zum Karower Dorfkern. Die langen Riegel zerschnitten Zillich & Engel für Durchgänge, so daß man leichter in den „Hof“ – ein großer Spielplatz mit Seechen – gelangt.

Indessen, die Figur des Dorfangers bleibt der einzige Bezug zu den nahen Altbauten. An den kantigen Blöcken mit ganzseitig nach Süden ausgerichteten Glasfronten setzt sich nichts fest. Die großen Scheiben spiegeln den Außenraum zurück, die Häuser wirken beinahe profillos. Fast meint man, die dünnen Fassaden seien zu fragil, als daß sie dem Wind Widerstand leisten könnten. Die 1993 fertiggestellten Glashäuser erscheinen in der Vorortsiedlung wie Fremdkörper, die quasi auf die größte mögliche Distanz zur bestehenden Bausubstanz gehen. Das läßt sie haltlos aussehen, wie Züge beim Stopp auf der Durchreise. Ihr Standort, die namenlose „Straße 43“ ist da ein Sinnbild mehr für die Identitätslosigkeit. Die Dinge aus Glas haben keine Aura.

Und hinter den „Schaufenstern“? Es gibt keine Geheimnisse hinter der Glashaut. Die Innenwände hüllen die Bewohner nicht ein, sondern erscheinen aufgebrochen. So bieten die ein- und zweigeschossigen Wohnungen – zumal bei nächtlicher Erleuchtung – kein Versteck. Die Menschen und ihre Interieurs werden ausgestellt wie auf einem Präsentierteller. Der Blick reicht in die Räume hinter den Wintergärten ebenso wie durch jene hindurch, die quasi an der Scheibe liegen.

Kaum eingezogen, reagieren die Bewohner mit Architekturkritik: Die Fenster werden mit blickdichten Vorhängen verbarrikadiert. Schränke dienen als Wandersatz. Und in ein paar Jahren werden auf dem zum Spielplatz umgerüsteten Anger Zäune und Ligusterhecken stehen – jede Wette. Rolf Lautenschläger