ILYA KUTIK

Foto: Gunnar Harding

Josef Brodsky und Ilya Kutik waren die beiden russischen Dichter, die in diesem Jahr an „Poetry International“ in Rotterdam, dem wohl wichtigsten europäischen Lyrikfestival, teilnahmen. Der 1960 in Lwow geborene Ilya Kutik kannte Brodsky nicht, der sein Erscheinen erst für die letzten beiden Tage des Festivals angekündigt hatte – und fieberte dessen Ankunft wie der eines Halbottes entgegen. Nach einer gemeinsam durchzechten Nacht schenkte Josef Brodsky am nächsten Morgen seinem jüngeren Kollegen einen Montblanc-Füller. Er überreichte ihn wie ein Sakrament. „Jetzt kannst Du schreiben“, schien die paternalistische Miene des Nobelpreisträgers zu sagen. Dabei hatte Ilya Kutik solche Weihen gar nicht nötig. Er gilt, neben Jelena Schwarz und Olgas Sedakova, als eines der großen Talente der jüngeren russischen Dichtergeneration. Bis 1988 konnte er, der am Maxim-Gorki-Institut in Moskau Literatur studiert hatte, nur inoffiziell veröffentlichen und in Privatwohnungen lesen. 1990 erschien dann sein erster Gedichtband „Fünfkampf der Gefühle“, von dem wir hier drei Gedichte abdrucken; 1993 ein weiterer Band, „Der Bogen des Odysseus“, mit neuen Gedichten und poetologischen Reflexionen („Ein Gedicht ist dieser Pfeil von Odysseus' Bogen, der durch alle Ringe der zwölf Äxte dahinschnellt – jede Strophe ist ein Ring – und, völlig unberührt geblieben, in das Ziel trifft“).

Fast alle bedeutenden Dichter Rußlands haben sich als Nachdichter um die Vermittlung fremdsprachiger Poesie verdient gemacht. Felix Philipp Ingold, selbst ein Nachdichter von Rang, hat darauf hingewiesen, daß in Rußland die Einverleibung fremder Texte, kraft der dichterischen Imagination ihrer Übersetzer, in manchen Fällen so perfekt praktiziert wurde, daß die übersetzten Texte – etwa von Schiller, von Heine – tatsächlich als „russische“ Gedichte gelten können. „Viele russische Autoren“, schreibt F.P. Ingold, „legten ihre Nachdichtungen unter ihrem eigenen Namen vor, wodurch die Übersetzung dem Original nicht nur gleichgestellt, sondern als Originaltext beglaubigt wurde. Auf diese Weise hat Ossip Mandelstam Gedichte von Petrarca und hat Boris Pasternak Gedichte von Rilke in der russischen Literatur (...) eingemeindet.“ Diesen Zeugnissen hat Ilya Kutik seine Lyriksammlung „Schwedische Dichter“ (1992 in Moskau erschienen) zur Seite gestellt. In ihnen wird auf höchstem sprachlichem Niveau alle Kunst des Dichtens mit der Kunst des Nachdichtens noch einmal adäquat zusammengeführt. Diese „Übersetzungen und Variationen“ bilden einen integralen, zugleich eigenständigen Teil von Kutiks literarischem Schaffen, das physische und imaginäre Welt zu verbinden und in Anlehnung an die metaphysischen und Barockdichter des 17. und 18. Jahrhunderts deren oratorische und liturgische Kadenzen in eine zeitgenössische Gestalt zu gießen sucht. Joachim Sartorius

Bibliographischer Kurzhinweis

In Russisch:

„Fünfkampf der Gefühle“ (Pjatiborje tschuwstw), Moskau 1990

„Schwedische Dichter“ (Shwedskie poety), Moskau 1992

„Der Bogen des Odysseus“ (Luk Odisseia), St. Petersburg 1993

In Englisch:

Größere Werkauszüge in: „Third Wave. The New Russian Poetry“. University of Michigan Press, 1992

„Ode on Visiting the Belosaraisk Spit, on the Sea of Azov“, City Light Books, San Francisco, 1993

Die Gedichte auf dieser Seite sind deutsche Erstveröffentlichungen. Sie sind von Felix Philipp Ingold in die deutsche Sprache „eingemeindet“.

Im Rainer Verlag Berlin ist gerade erschienen: „Ausgesungen“ von F.P. Ingold mit einer Übersetzung ins Russische von Ilya Kutik.