Kuba: Zittern vor der großen Reform

Vor dem Total-Zusammenbruch der sozialistischen Wirtschaft hat Fidel Castro ein bitteres Reformprogramm angekündigt. In Havanna ist schon von einer Million Arbeitslosen die Rede. Ob die Revolution das überlebt, weiß niemand.  ■ Von Bert Hoffmann

Kubas Finanzminister zeichnet den Niedergang der Wirtschaft auf die Serviette, die neben seinem Abendbrotteller liegt: Eine Kurve, die 1989 ansetzt, als die sozialistische Welt noch in Ordnung war, und dann kraß abfällt. „Wir dachten, daß 1992 der Tiefpunkt erreicht wäre und es danach wieder aufwärts geht“, sagt José Luis Rodríguez, und er malt bei der „92“ zwei gestrichelte Linien auf die Serviette, die nach oben weisen, eine recht steil, die andere flacher – so ungefähr hatte es sein sollen. „Die notwendigen Maßnahmen wollten wir erst dann durchführen. Aber“, und der Minister nimmt nicht die gestrichelten Linien wieder auf, sondern zieht die schwarze Abwärtskurve weiter, bis sie fast die Null-Achse trifft: „1993 ist die Produktion weiter gefallen. Jetzt müssen wir handeln – auch wenn die Lage noch kritischer ist als vor einem Jahr.“ Im Klartext: Kubas Wirtschaft steht ein knüppelhartes Anpassungsprogramm bevor, soll die Revolution vor dem völligen – und dann traumatischen – Zusammenbruch gerettet werden.

Und damit wird es nun offenbar ernst. Ende Oktober hat die Regierung in Havanna dem kubanischen Volk erstmals Teile jenes Reformprogramms angekündigt, über das hinter den Kulissen seit geraumer Zeit heftig gerungen wird. Auch wenn Kubas oberster Verantwortlicher für Wirtschaftsfragen, Carlos Lage, in der Parteizeitung Granma die „notwendigen Maßnahmen“ so allgemein formuliert hat wie möglich: „Gesundung der Staatsfinanzen“, „Reorganisation des Staatsapparats“, „Einführung einer konvertierbaren Währung in den nächsten Monaten“ – für die sozialistische Karibikinsel sind dies Sprengsätze an ihren Fundamenten. Auch ganz ohne IWF und Weltbank sprechen Ökonomen in Havanna bereits von einer Million KubanerInnen, die durch die unvermeidliche Streichung der Subventionen für die Staatsbetriebe ihren Arbeitsplatz verlieren werden – bei einer Erwerbsbevölkerung von unter vier Millionen.

Doch eine Alternative zu einem derart schmerzhaften Reformprogramm vermag in Havanna keiner zu benennen. Ohne das sowjetische Füllhorn in der Hinterhand weiß niemand auf der Insel, wie etwa das astronomische Haushaltsdefizit weiter zu finanzieren sein soll. Denn den Milliarden- Subventionen des Staates steht Tag für Tag weniger Produktion gegenüber. Rohstoffe und Ersatzteile fehlen überall, der Transport ist weitgehend zusammengebrochen, und der dramatische Ölmangel lähmt jede Wirtschaftstätigkeit. Seriöse Schätzungen gehen davon aus, daß die kubanische Industrie gerade noch auf 10 bis 15 Prozent ihrer Kapazität arbeitet.

Erst seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Verbündeten in Übersee entfaltet auch das vor drei Jahrzehnten verhängte Handelsembargo der USA seine ganze destruktive Kraft. Und auch wenn Kubas Diplomatie gerade wieder erreicht hat, daß die Vollversammlung der Vereinten Nationen die USA dafür in Bausch und Bogen verurteilt – Washington kümmert das nur wenig. Aber auch die ganz normalen Daumenschrauben der kapitalistischen Weltwirtschaft treffen Kuba nun, da die Schutzmauern des RGW gefallen sind, mit um so mehr Macht: Die 6,1 Milliarden US-Dollar Schulden gegenüber dem westlichen Ausland etwa, die Kuba seit 1986 nicht mehr bedient – was heute jegliche Ausweitung des Handels oder gar neue Kredite enorm behindert; der Absturz der Weltmarktpreise für die kubanischen Nickelexporte; der Protektionismus der EG, der die heimische Zuckerrübe mit Milliardenaufwand gegen die Konkurrenz durch das Zuckerrohr aus Übersee abschottet; die Patentgesetze und die Monopolstellung der großen Pharma-Multis, die es unmöglich machen, daß der als großer Hoffnungsträger aufgebaute Pharma- und Biotechnologie-Sektor Kubas mehr als nur Nischen auf dem Weltmarkt findet.

Bislang hat sich die Regierung Castro dabei zugute gehalten, daß trotz Krise kein kubanischer Arbeiter ohne Lohn geblieben ist – und hat weiter Pesos gedruckt. Nur gibt es für die nichts mehr zu kaufen: In der Staatswirtschaft ist praktisch jeder freie Verkauf abgeschafft worden. Vom Brot bis zum Bleistift ist alles nur noch über die – drastisch zusammengestrichene – Rationierungskarte zu bekommen. Auf neun Milliarden Pesos beläuft sich so mittlerweile der Überhang an Geld im Land, dem keine Waren mehr gegenüberstehen. Eine Menge, die Finanzminister Rodríguez selbst umrechnet: Im statistischen Durchschnitt hat jeder Kubaner und jede Kubanerin 14 komplette Monatsgehälter unter der Matratze, für die sie legal keine Produkte mehr finden. Entsprechend groß ist der Boom des Schwarzmarkts. Entsprechend rasant steigen dort auch die Preise. Und entsprechend verfällt der Wert der kubanischen Währung ins Bodenlose. Wo, schwarz getauscht, der durchschnittliche Monatslohn gerade noch zwei (!) Dollar wert ist, ist es allerhöchste Zeit, die Notbremse zu ziehen. Vielleicht ist es auch schon zu spät.

Um seine Aufgabe jedenfalls beneide ihn wohl niemand auf der Insel, meint José Luis Rodríguez selbst. Der grauhaarige Mann spricht von der Situation mit atemberaubender Nüchternheit. Er ist kein jung-dynamischer Politiker, kein nach oben gefallener Parteikader, sondern Wirtschaftswissenschaftler, einer der profiliertesten Kubas. Als er vor drei Monaten zum Minister ernannt wurde, wußte José Luis Rodríguez nur zu gut, auf was für einen brisanten Job er sich damit eingelassen hat. Einen ersten Vorgeschmack auf das Kommende gab die Legalisierung des US-Dollar, zu der sich Fidel Castro in diesem Sommer gezwungen sah. Es war ein Paukenschlag: Die Kapitulation vor der Währung des Erzfeindes USA trifft das Selbstbewußtsein der Revolution ins Mark. Und fast über Nacht wurde damit der Anspruch der Revolution auf Gleichheit und soziale Gerechtigkeit zu den Akten gelegt. Und nicht legalisierte „Zweitwährung“ ist der Dollar, sondern exklusive Erstwährung: es ist schlechterdings das einzige Geld mit echtem Wert. Wem die Verwandten in Miami Geld schicken oder wer von den Touristen Dollars ergattern kann, hat Jeans-Hosen und Fleisch, kann sich auf dem Schwarzmarkt mit Benzin versorgen oder in den Dollarshops neon- grelle Mountainbikes kaufen. Und noch die vorsichtigste Schätzung geht davon aus, daß im kommenden Jahr nicht weniger als eine Viertelmilliarde US-Dollar als Familienhilfe aus dem Exil kommt. Darüber hinaus werden 1994 auch etwa 200.000 Exilkubaner die Insel besuchen dürfen. Die werden dem Staat zwar Devisen bringen, der kubanischen Gesellschaft aber auch bis dahin nicht gekannte soziale Gegensätze vorführen.

Daß Fidel Castro diese Dollar- Kröte nicht gerne geschluckt hat, ahnt jeder; daß er es doch tun mußte, zeigt, wie bedrohlich die Situation ist. In den trockenen Zahlen des Finanzministers: 1989 konnte Kuba noch für 8,14 Milliarden Dollar Waren importieren, 1992 gerade noch für 2,2 Milliarden. Und 2 Milliarden gelten als kritische Überlebensmarke der kubanischen Ökonomie. Doch der katastrophale Einbruch bei der Zuckerernte in diesem Frühjahr ließ für 1993 gerade noch 1,7 Milliarden erwarten – ein Loch, das so schnell durch keine andere Maßnahme als die Legalisierung des Dollars gestopft werden konnte. (Die Alternative, das sagt der Minister nicht, wäre eine extrem verschärfte Kriegswirtschaft gewesen, die von Regimegegnern als „Kubas kambodschanischer Weg“ gefürchtet wurde.)

Besonders pikant an der Dollar- Freigabe ist, daß es just die treuesten Stützen der Revolution sind, die zu den Verlierern zählen. Alle Angehörigen von Militär, Polizei und Staatssicherheit, auch alle Parteimitglieder mußten einst, da war die Führung der Revolution unerbittlich, mit den ins Exil gegangenen Verwandten brechen. Entsprechend können sie heute am wenigsten auf einen reichen Dollarsegen aus dem Ausland hoffen.

Noch kaum wahrgenommen, birgt die Dollarisierung aber auch gewaltigen ethnischen Sprengstoff: Die kubanische Exilgemeinde in den USA ist (zumindest ihrem Selbstverständnis nach) zu 97 Prozent „weiß“. Die Dollarmillionen aus Miami werden sich in Kuba entsprechend auf die „weiße“ Bevölkerung konzentrieren. Die Schwarzen und Mulatten, die die Bevölkerungsmehrheit auf der Insel stellen und die vielfach der Revolution einen enormen sozialen Aufstieg zu verdanken haben, werden in aller Regel leer ausgehen.

Und wer keinen Zugang zur Dollar-Welt hat, für den sieht es heute schlecht aus. Selbst das salario máximo, der zulässige „Höchstverdienst“ in Kubas Staatswirtschaft, sind 450 Peso, umgerechnet sechseinhalb Dollar pro Monat.

Die Arbeitsmoral ist entsprechend: Der Staat tut so, als ob er uns bezahlen würde, und wir tun so, als ob wir arbeiten würden. Wer irgend kann, flüchtet in Berufe in der Dollar-Welt: Taxifahrer oder Kellner, Prostituierte oder Angestellte in den aufkommenden Joint-venture-Unternehmen. Ansonsten gilt es, sich bei der Arbeit selbst eine „Entlohnung“ zu organisieren, die das Lebensnotwendige sichert, sprich: abzuzweigen, was abzuzweigen geht – Benzin und Glühlampen, Brot und Papier, Zigaretten und Maschinenöl. Auf 30 Prozent der Gesamtökonomie beziffern kubanische Forschungsinstitute bereits das Ausmaß des Schwarzmarkts.

In der Praxis ist Kubas sozialistische Wirtschaft so schon lange vorher ausgehöhlt worden, bevor nun auch von der politischen Führung ihre notwendige Reform auf die Tagesordnung gesetzt wird. Der Finanzminister kritzelt immer neue Zahlen, Zeichen und Abkürzungen auf die Serviette. Längst hat man ihm einen Schreibblock gereicht, aber José Luis Rodríguez bleibt bei der Serviette, dreht sie um und skribbelt auf der Rückseite weiter. Natürlich, um überhaupt wieder eine Arbeitsmotivation zu schaffen, muß es eine effektive Entlohnung geben. An Schocktherapien und schnelle Lösungen glaubt er dabei nicht.

Was bleibt, sind graduelle Schritte. Zum einen geht es darum, Stück für Stück wieder freien Verkauf „Ware gegen Geld“ zu erlauben, um dem abstürzenden Peso ein reales Angebot an Produkten und Dienstleistungen gegenüberzustellen. Seit Anfang September ist so eine ganze Liste nichtakademischer Berufe freigegeben worden, die künftig legal als private Ein-Personen-Betriebe arbeiten und ihre Waren zu kontrollierten Preisen verkaufen dürfen. Und dies ließe sich nach und nach ausweiten, zunächst auch auf akademische Berufe, dann auf Kooperativen, später gar auf den Verkauf von landwirtschaftlichen Produkten.

Der andere Teil der Strategie knüpft an die Legalisierung des Dollars an. Vermutlich parallel zum alten „sozialistischen“ Peso, so dürfte die Ankündigung von Castros Wirtschaftszar Carlos Lage zu verstehen sein, wird ein neuer, konvertierbarer Peso eingeführt werden. Zumindest dort, wo eine Steigerung der Arbeitsproduktivität am dringendsten vonnöten ist, könnte dann ein Teil des Lohns gleichsam als Prämie in diesen Devisen-Pesos gezahlt werden, die zum Einkauf in den staatlichen Dollarshops berechtigen.

Das alles freilich ist leichter geplant als getan. Wenn der Staat nur wenige dieser „harten Pesos“ ausgibt, wird die ökonomische Wirkung gering bleiben; die soziale hingegen, das Gefühl, daß die Revolution selbst die Gesellschaft in Kubaner erster und zweiter Klasse spaltet, wird gleichwohl Unzufriedenheit schüren. Und wenn der Staat viele der neuen Devisen-Pesos unter das Volk bringt – ja, dann müßte er, um die neue Währung „hart“ zu halten, auch viele Dollars aufwenden, um das entsprechende Warenangebot zu importieren. Bei dem dramatischen Devisennotstand Kubas ist dies kaum vorstellbar.

Aber auch die jüngste Zulassung privater Kleinstbetriebe hat Tücken. Es gibt ja nirgends – zumindest nicht legal und für Pesos – irgendwelche Inputs zu kaufen, keine Rohre für den Klempner und kein Benzin für den Mietchauffeur, keine Natronlauge für den Seifensieder und keine Grundstoffe für die Herstellung von Plastikschmuck. All dies kann, jeder in Kuba weiß das, nur „organisiert“ sein, abgezweigt, robado. Was vorher Schwarzmarkt war, findet sich nun bestenfalls in einer Grauzone wieder. Entsprechend gering war auch die Resonanz auf das Dekret: Einen Monat nach der Bekanntgabe hatten sich im ganzen Land gerade 6.000 Kubaner in einem der neuen Berufe registrieren lassen.

Entscheidend wird zudem sein, ob diese neue Freiheit auch für den Handel mit Agrarprodukten gelten wird. Ohne Frage ist dies der Dreh- und Angelpunkt für jede Reaktivierung der kubanischen Landwirtschaft. Noch 1989 stammten nicht weniger als 51 Prozent (!) der in Kuba konsumierten Kalorien aus dem Import. Heute nun ist die Steigerung der einheimischen Nahrungsmittelproduktion eine Aufgabe, die keinen Aufschub duldet. Doch auch wenn neuerdings die großen Staatsbetriebe in Kooperativenform genutzt werden können: der Verkauf der angebauten Lebensmittel durch die Produzenten selbst bleibt nach wie vor das große Tabu der kubanischen Wirtschaftspolitik, seit Fidel Castro 1986 sein ganzes persönliches Prestige in die Waagschale warf, um die bis dahin existierenden Bauernmärkte – angeprangert als Keimzelle des Kapitalismus – abzuschaffen.

In dem jüngsten Granma-Interview hat Castros Wirtschaftsmanager Carlos Lage den Kubanern erklärt, daß die gegenwärtige Krise so tief ist, daß noch nicht absehbar ist, wann es wieder aufwärts gehen wird. Die Ehrlichkeit ehrt ihn. Aber wie lange hält die Bevölkerung das noch aus, wenn jetzt erst die „wirklichen Entbehrungen“ angekündigt werden – und all das, ohne daß auch nur die Führung ein Licht am Ende des Tunnels sieht? Was ist, wenn auch nur Teile der Bevölkerung dies nicht mehr ertragen? Tiananmen? Gibt es überhaupt noch Spielräume, einen Übergangsprozeß abzufedern? Läßt sich noch verhindern, daß die in den 9 Milliarden Peso Währungsüberhang aufgestaute Hyperinflation die Wirtschaft in Schutt und Scherben schlägt, sobald die Reform die Ventile öffnet? Hat die Regierung überhaupt noch Zeit für ein derart schrittweises Vorgehen, wie es die Serviette des Ministers zeigt?

„Wir haben viel Zeit verloren“, sagt José Luis Rodríguez. Wußte man in Kuba einst die Geschichte mit und hinter sich, spielt die Zeit nun unerbittlich gegen den spät unternommenen Versuch, die Revolution durch Reform zu retten. „Wir müssen jetzt sehr schnell vorangehen – aber trotzdem Schritt für Schritt! Man kann nicht ein System kappen, ohne es durch ein anderes zu ersetzen. Wir dürfen nicht die Fehler anderer Länder wiederholen. Es geht nicht anders: Wir haben keine Zeit mehr, aber wir müssen trotzdem Schritt für Schritt gehen.“

Die Serviette bleibt liegen. Der Minister muß weiter, auf Tour durch das Land, den Kadern in den Provinzen die neuen Zwänge verklickern. Nein, um seinen Job beneidet ihn niemand am Tisch. Und niemand will in der Haut der zehn Millionen Kubaner und Kubanerinnen stecken, die die kommenden Umbrüche zu leben haben.