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Eine Verfassung für die Übergangszeit

Bei der Diskussion über die Dauer der Gültigkeit der neuen russischen Verfassung hat sich Boris Jelzin durchgesetzt / Bevölkerung wird Verfassung voraussichtlich annehmen  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

„Alle die für diese Verfassung sind, sind jene, die weder eine Diktatur noch Diktatoren, weder Tyrannei noch Gewalt in Rußland wollen“, machte Präsident Jelzin in einer Fernsehansprache seinen Landsleuten das Verfassungswerk schmackhaft. Am 12. Dezember sollen sie in einem Referendum die Entscheidung treffen. Wer kann da schon ernsthaft nein sagen? Zumal das Verfassungswerk erstmals Grundrechte sichert, die bisher kein Bestandteil der sowjetischen und russischen Verfassungswirklichkeit waren.

Noch ist die Kritik am Verfassungsentwurf zurückhaltend. Obwohl die überarbeitete Fassung Änderungen birgt, die mit Vorsicht zu genießen sind. Die Niederschlagung des Oktoberputsches nutzte Jelzin, um die Verfassung seinen Vorstellungen anzunähern. Die neue Konstitution, in Anlehnung an die Verfassung der Fünften Republik Frankreichs, stärkt eindeutig die Exekutive auf Kosten der Legislative. Die Komsomolskaja Prawda meinte ironisch, bei der Verfassung des Jahres 1906 hätte sogar der Zar weniger Vollmachten erhalten. Der Bürgermeister von St. Petersburg Sobtschak kritisiert schon lange das Verfassungsvorhaben, da es eine Möglichkeit zur Alleinherrschaft beinhalte. Schachweltmeister Kasparow, der dem jelzin-nahen Block „Rußlands Wahl“ angehört, kommentierte umgehend: „Die Verfassung ist provisorisch, auf Dauer kann sie dem Land nicht dienen.“

Genau darum drehte sich die Diskussion in den letzten Monaten. Sollte man ein Verfassungswerk schaffen, das – wie die amerikanische Konstitution – ihre Zwecke erfüllt, ohne seit Jahrzehnten eine Korrektur erfahren zu haben. Oder – dahin tendierte Jelzin – hatte das Grundgesetz die Rahmenbedingungen der Übergangsperiode zu stabilisieren.

Jelzin hat sich durchgesetzt. Der Präsident hat das Recht, das Parlament aufzulösen, wenn es den vorgeschlagenen Premierminister dreimal hintereinander nicht bestätig, oder es der Regierung das Mißtrauen ausspricht. Allerdings, so schrieb die ehemals liberale Zeitung Nesawissimaja Gaseta, sei dem Präsident noch ein Lapsus unterlaufen: Er habe aus der Verfassung nicht den Passus beseitigt, der ihm untersagt, die Legislative im ersten Jahr ihrer Legislaturperiode aufzulösen. Die Kritik an der Stellung des Präsidenten richtet sich in erster Linie gar nicht unbedingt gegen Jelzin. Dahinter steckt der Verdacht, einem neuen Präsidenten damit die Alleinherrschaft zu ermöglichen. Will der Gesetzgeber den Präsidenten durch ein Amtsenthebungsverfahren zu Fall bringen, hat er einige Hürden zu nehmen. Zunächst müssen die zuständigen Gerichte entscheiden, dann bedarf es einer Zweidrittelmehrheit im Parlament.

Beschneidungen ihrer Handlungsfreiheit müssen auch die 88 Subjekte der Russischen Föderation hinnehmen. Hatte Jelzin ihnen ursprünglich zugesichert, sie könnten soviel Souveränität nehmen, wie sie vertragen, wurde dies als Artikel nicht in die Verfassung aufgenommen. Obwohl die Vertreter der Regionen den Kampf zwischen dem alten Parlament und der Exekutive monatelang genutzt hatten, um ihre Zuständigkeiten zu erweitern, haben sie in der Endphase des Projekts klein beigegeben: Von Souveränität der Subjekte ist nicht mehr die Rede. Das Verhältnis der Provinzen zum Zentrum wird der Föderationsvertrag regeln. Jelzin gehörte zu jenen, die eine weitergehende Föderalisierung Rußlands für unumgänglich hielten. Im Interesse Rußlands ist zu hoffen, daß es dabei bleibt. Den egoistischen Anliegen der Provinzfürsten schiebt diese Verfassung einen Riegel vor.

Die Folgen des Oktoberputsches lassen sich der neuen Verfassung in vielen Punkten entnehmen. Mit Sicherheit wird die Mehrheit der Russen die Konstitution auch trotz ihrer – oder gerade wegen ihrer – Überbetonung der Stellung des Präsidenten im Dezember gutheißen. Dennoch wird es nicht die letzte Version der russischen Verfassung bleiben.

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