Boris Jelzin – Herr und Hüter der Verfassung

Der russische Verfassungsentwurf bedeutet ein eindeutiges Bekenntnis zum Präsidialsystem nach dem Vorbild der USA und Frankreichs, nur fehlen ihm die – vor Machtmißbrauch schützenden – „checks and balances“  ■ Von Christian Semler

Glückliche Zeiten, als die Gründerväter der amerikanischen Verfassung, unbehelligt von den Zeitläuften, in den „federalist papers“ gemächlich darüber debattieren konnten, welches Verfassungssystem den frisch gegründeten Vereinigten Staaten gemäß sein würde. Normalerweise stehen Verfassungsdebatten unter Druck – so auch im Fall Rußlands. Zwar war mit der Niederschlagung des Augustputschs 1991 ein grundsätzlicher Entscheid für den „westlichen“ Verfassungsstaat gefallen. Aber „der Leichnam der UdSSR in unserer Mitte“ (Jurji Afanasjew) blockierte jede rationale Lösung. Eine Koalition von Besitzstandswahrern instrumentalisierte den Voksdeputiertenkongreß. Sie konterkarierte die Ansätze zur Reform. Kompromißvorschläge fruchteten nichts. Schließlich löste Jelzin den Kongreß auf, und ein Teil des gegnerischen Lagers antwortete mit der bewaffneten Revolte. Der Ausgang dieser Auseinandersetzung ist bekannt.

Zu diesem Zeitpunkt war die Verfassungsdiskussion in Rußland relativ weit fortgeschritten. Neben den diversen auf die Wiedererrichtung des Sowjetstaats hinauslaufen Entwürfen gab es im wesentlichen drei Projekte: das von Jelzin, das von Oleg Rumjanzew, das die gemäßigten Kräfte des Obersten Sowjets repräsentierte, und das der von Jelzin einberufenen Verfassungskommission, die zu vermitteln suchte. Der Hauptunterschied zwischen dem Rumjanzew-Entwurf und den beiden anderen Entwürfen lag darin, daß Rumjanzew die Kompetenzen des Präsidenten auf die Sicherheits- und Außenpolitik beschränken wollte und daß er eine stärkere Zentralisierung des Staatsaufbaus befürwortete.

Ein besonderes Problem für jeden denkbaren Verfassungsentwurf stellte der föderative Staatsaufbau dar. Dessen Grundlagen waren durch den Föderationsvertrag von 1992 festgelegt worden. Dort findet sich auch die Abgrenzung der Kompetenzen, relativ weitgehende Befugnisse der Zentrale in der Steuer- und Wirtschaftspolitik, aber auch die Verfügungsgewalt der „Unionssubjekte“ über ihre Ressourcen und Bodenschätze. Die Schwäche der Zentralgewalt ermutigte die politischen Eliten in den Teilrepubliken, eine Staatenbund-Lösung ins Spiel zu bringen, was sich in der Forderung nach Souveränität der Gliedstaaten manifestierte. Nach dem Sieg Jelzins rückten die „der Provinz“ von dieser Position ab. Wie aber künftig der Föderationsvertrag in die Verfassung integriert und zu einem handhabbaren Verfassungsorganisationsrecht entwickelt werden kann, blieb offen.

Dieser Entwurf basiert eindeutig auf dem Präsidialsystem nach dem Vorbild der USA und Frankreichs, ihm fehlen allerdings eine Reihe der checks and balances, die die beiden westlichen Verfassungen vor präsidentiellem Machtmißbrauch schützen sollen. Am bedenklichsten sind die Verfassungsbestimmungen, die den Präsidenten zum Garanten der Verfassungsordnung und zum Schiedsrichter bei Konflikten zwischen der Union und den Unionssubjekten machen. Der Präsident gerät hierdurch in die Rolle eines „Hüters der Verfassung“ und erhält einen über das Institutionensystem hinausragenden Status – wie in der Verfassungspraxis der zerfallenden Weimarer Republik. Sein Recht, das „Unterhaus“, die Staatsduma, aufzulösen, ist praktisch unbeschränkt, während die französische Verfassung, eines der Vorbilder, zwischen zwei Auflösungen wenigstens den Abstand eines Jahres vorschreibt. Die Befugnis zum Erlaß von Dekreten widerspricht der Gewaltenteilung. In der französischen Präsidialverfassung kann nur der Premierminister zu diesem Mittel greifen, das überdies der parlamentarischen Bestätigung unterliegt. Die Proklamation des Ausnahmezustands, selbst wenn sie das „Oberhaus“, der Föderationsrat, billigen muß, ist an vage Voraussetzungen gebunden und in seinen Rechtsfolgen unklar, ein Gebrechen, das er allerdings mit seinem französischen Vorbild teilt. Immerhin ist in Frankreich während des Ausnahmezustandes das Parlament unter keiner Bedingung auflösbar.

Die Grundrechte gelten unmittelbar, sind also einklagbar. Erstmals findet sich das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Auch die für realsozialistische Verfassungen (und für die von Weimar) typische „Symmetrie“ von Grundrechten und Grundpflichten ist vermieden. Gesetzesvorbehalte allgemeiner Natur gibt es nicht. Allerdings werden einige Grundrechte eingeschränkt, wie z.B. die Unverletzlichkeit der Wohnung oder die freie Meinungsäußerung. Letztere durch das Verbot, zu Haß und Feindschaft zwischen den Völkern Rußlands aufzustacheln. Einen Kompromiß stellen die sozialen Grundrechte dar. Einige sind als Staatsziele formuliert, an der denen sich die Politik zu orientieren hat, andere scheinen einen individuellen Rechtsanspruch zu begründen. Im Entwurf wird das Privateigentum allgemein und ohne Einschränkungen garantiert. Eine selbständige Bekräftigung möglichen Privateigentums an Grund und Boden bietet die Voraussetzung der Bodenreform. Gleichzeitig werden verschiedene Eigentumsformen anerkannt. Für viele liberale Kritiker enthält dieser Artikel kollektivistische Konterbande. Genausogut kann man allerdings argumentieren, daß damit genossenschaftlichen bzw. selbstverwalteten Organisationsformen ein angemessener Schutz gewährt wird. Das Grundgesetz der BRD mit seiner „Eigentum verpflichtet“-Klausel ist hier auf alle Fälle „sozialistischer“ als der russische Verfassungsentwurf.

Der Entwurf enthält einige Grundsätze lokaler Selbstverwaltung. Zum demokratischen Aufbau der Föderationsverwaltung findet sich allerdings keine präzise Vorstellung, ein folgenträchtiges Versäumnis, wenn man die bürokratischen Traditionen Rußlands bedenkt. Gesellschaftliche Organisationsformen und -initiativen werden im Text, von Gewerkschaften und Parteien abgesehen, mit Zurückhaltung bedacht. Das ist angesichts der Zwangsvergesellschaftung der letzten 79 Jahre verständlich, aber kurzsichtig. Denn die Kraft einer künftigen demokratischen Verfassung wird von der Kraft der staatsunabhängigen Bewegungen abhängen, die sie stützen und weiterentwickeln. Victor Leontowitsch schrieb in seiner Geschichte des Liberalismus in Rußland, daß „die Unentwickeltheit des zivilen Regimes, der zivilen Freiheit auch zum Erlöschen der politischen Freiheit und zum Zusammenbruch des konstitutionellen Regimes in Rußland geführt hat“. Ein alter Text, auch heute bedenkenswert.