Ein Linker hat eine messianische Tradition
■ Jochen Kirchhoff über die „neue Spiritualität“ und wie die Linke dazu steht
taz: Welche Funktion kann Philosophie in unserer Gesellschaft haben?
Jochen Kirchhoff: Die Philosophie ist immer wieder totgesagt worden. Ihre Aufgabe kann wahrscheinlich nur darin bestehen, sich um die geistige und spirituelle Grundlage der vielfältig zersplitterten Welt unserer Zeit zu bemühen. Das wäre wahrscheinlich das Größte, was Philosophie leisten könnte.
Du sprichst den Aspekt der Spiritualität an: Was bedeutet Spiritualität?
Spiritualität im eigentlichen Sinn, denke ich, meint eine Haltung zur Wirklichkeit, die davon ausgeht, daß die intellektuellen oder rationalen Schichten nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit erfassen und daß die wesentlichen Schichten jenseits dieser mentalen Ebene angesiedelt sind. Spiritualität bemüht sich um einen Zugang zu diesen anderen Ebenen. Das hat man natürlich im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende immer wieder versucht. Und man hat dabei gesehen, daß Spiritualität immer wieder auch gescheitert ist; daß sie dogmatisch erstarrt, auch patriarchal war, wie man ja heute mit Recht kritisiert. Ich denke, daß eine solche Spiritualität nicht mehr zeitgemäß ist. Wir müssen einen neuen Zugang zur Spiritualität finden.
Wie könnte das aussehen?
Dazu kurz erst zur alten Spiritualität. Es gibt zwei Grundtypen von Spiritualität oder Religiösität. Die eine orientiert sich an den Offenbarungsreligionen, Judentum, Christentum, Islam. Da ist ein Gründer und Stifter, der kraft seiner eigenen Offenbarung ein dogmatisches Gebäude quasi vorgibt, in das man sich irgendwie einpassen muß. Und dann gibt es das eher asiatische Modell, nicht nur im Buddhismus, auch im Hinduismus. Da geht der einzelne den Weg der Selbsterlösung, ohne daß eine dogmatische Vorprägung gegeben ist. Dieser eher asiatische Weg hat große Attraktivität für viele im Westen. Also im Sinne einer befreiten, nicht dogmatisch festgelegten Spiritualität, die viele Wege integriert. Ohne deshalb zum Chaos oder Sammelsurium verschiedenster Strömungen zu werden, wie es beispielsweise die New-Age-Szene auf zum Teil unerfreuliche Weise zeigt.
Wozu brauchen wir Spiritualität deiner Meinung nach?
Wir befinden uns in einer extrem gefährlichen und gefährdeten Situation, und ich gehöre zu denen, die sagen, daß eigentlich diese extreme Gefährdung des Planeten und der gesamten Menschheit gerade auch ein Chance bietet, nochmals die Grundfragen unserer Existenz ganz neu, fundamental neu anzugehen. Ob wir Spiritualität brauchen, ist wirklich ganz schwer zu sagen. Letztlich wird man die Frage wohl nicht beantworten können, ohne Grundlegendes zu sagen zum Menschen: Was ist der Mensch überhaupt? Ist er nur ein höheres Tier? Dann wäre Spiritualität wirklich nichts anderes als im Marxschen Sinne Überbau. Oder ist der Mensch im Rahmen der gesamten kosmischen Evolution ein geistiges und seelisches Wesen? Dann stellt sich die Frage gar nicht, ob er Spiritualität braucht, er ist seinem Wesen nach spirituell.
Was bedeutet das für den einzelnen Menschen?
Ich glaube, man muß sich ganz konsequent erst einmal mit einer gewissen Regelmäßigkeit diesen inneren und äußeren Raum für Spiritualität schaffen. Praktisch gesprochen, sich jeden Tag zwanzig Minuten, eine halbe Stunde oder mehr in die tiefen Schichten seiner selbst hineinbegeben, sei es mit Zen, Yoga oder anderen Formen der Meditation.
Das heißt also, für den einzelnen Menschen steht die Entscheidung an, seinen Alltag anders zu strukturieren, sein Berufsleben umzugestalten?
Unbedingt. Ich würde sogar so weit gehen, daß ganz bestimmte Berufe eigentlich sukzessive aufgelöst werden müßten. Rudolf Bahro sagt gelegentlich, daß viele Berufe, die hier praktiziert werden, eigentlich lebens- und naturfeindlich sind. Das heißt, das ganze global herrschende Industriesystem ist in seiner Summe natur- und lebensfeindlich und hat uns, wie wir ja wissen, an den Rand der Selbstvernichtung gebracht.
Du rechnest dich zum geistigen Umfeld Bahros. Von einer bestimmten linken Position wird dieses Umfeld heftig kritisiert. Kann ein Linker spirituell sein?
Ein traditioneller Linker hat – betrachtet man die Geschichte – immer auch eine messianische Tradition, und ein Linker kann aller Intellektualität und Rationalität zum Trotz auch spirituell sein. Natürlich hat die Linke jedwedes Bewußtsein im Sinne eines spirituellen Zugangs zur Welt abgelehnt, als „falsches Bewußtsein“, als „Opium fürs Volk“ bei Marx, letztlich als Verschleierung knallharter Herrschaftsverhältnisse. Mit einigem Recht auch, wenn man sich die Geschichte der spirituellen Bewegungen ansieht. Wir begreifen heute zunehmend, daß Spiritualität, wenn sie gebunden ist an bestimmte Führerpersönlichkeiten, im Sinne des ganzen Guruwesens, immer auch die Möglichkeit bietet, in faschistoide oder gar faschistische Formen umzukippen. Und natürlich sollten gerade wir Deutschen besonders geschärft sein in unserer Aufmerksamkeit. Die Vorwürfe, die du gerade erwähnt hast, die von den Antifa-Gruppen etwa gegen Rudolf Bahro als „Ökofaschisten“ erhoben werden, die zeigen eine verkürzte und sehr oberflächliche Sichtweise. Bahro hat verschiedentlich erwähnt, wenn die ökologische Krise weiter so verläuft wie bisher, werden wir nicht umhinkommen, irgendwann eine Art Öko-Diktatur zu etablieren. Das bedeutet nicht, daß dies für ihn wünschenswert ist. Denn die Frage bleibt – und ich kann sie auch nicht beantworten –, ist die parlamentarische Demokratie in der Lage, mit der ökologischen Krise umzugehen? Bisher hat sie dieses Vermögen nicht gezeigt. Interview: Marion Fuhrmann
Jochen Kirchhoff ist Autor zu philosophischen Themen und Dozent bei Rudolf Bahro. Frau Fuhrmann ist Leiterin des Fachbereichs Philosophie der Volkshochschule Wedding.