Nur der Böse blickt durch

Systemtheorie als Theologie. Niklas Luhmann sieht viel, aber nicht alles. Der Kölner Philosoph Günter Schulte hat den blinden Fleck der Soziologie gesucht – und Gott gefunden  ■ Von Niels Werber

„Ich sehe was, was du nicht siehst.“ Natürlich nicht, denn ich stehe woanders, habe eine andere Perspektive. Ich sehe dich und weiß daher, warum du nicht siehst, was du nicht siehst. Allerdings kann ich mir vorstellen, daß auch du etwas siehst, was ich solange nicht sehe, wie ich nicht deine Perspektive übernehme. Niklas Luhmann hat dieses Kinderspiel einmal als Motto eines Vortrages gewählt; darin werden die erkenntnistheoretischen Überlegungen von George Spencer Brown vorgestellt, der mittlerweile in den Kreisen der Systemtheoretiker zum meistzitierten Autor avanciert ist. Brown vertritt die These, daß alle Beobachtungen mit zweiwertigen Unterscheidungen operieren, deren eine Seite jeweils bezeichnet werden kann. Etwa: dies ist „wahr“ und nicht „falsch“ oder „schön“ und nicht „häßlich“. Jede dieser Bezeichnungen setzt eine Unterscheidung voraus. Will ich etwas bezeichnen, muß ich mich zunächst für eine Unterscheidung entscheiden. Die Wahl der Unterscheidung entscheidet dann darüber, was ich beobachten kann und was nicht. Mit der Unterscheidung von „gut“ und „böse“ beobachte ich – egal wo ich hinschaue – etwas anderes, als mit der Differenz von „reich“ und „arm“, „neu“ und „alt“ oder „krank“ und „gesund“. Die Welt, die ein Beobachter sieht, erhält Konturen und Farbe von der Unterscheidung, mit der beobachtet wird. Wie sie „wirklich“ ist, läßt sich nicht festellen, da keine Beobachtung privilegierter ist als die andere. Es gibt einen Plural von Beboachterposten und dementsprechend eine polyperspektivische Welt. „Ich sehe was, was du nicht siehst. Du siehst was, was ich nicht sehe.“ Beobachter können also beobachten, wie andere Beobachter beobachten. So kann etwa ein moralischer Beobachter einen Ökonomen beobachten und zu dem Schluß kommen, er handele „gut“ oder „böse“, während dieser selbst seine Beobachtungen nicht moralisch ausrichtet, sondern am Profit. Einen neutralen Schiedsrichter, der sagen könnte, welche Beobachtung „besser“ oder „angemessener“ ist, gibt es nicht, und sogar Jürgen Habermas sieht nur das, was er sieht, und alles andere nicht. Luhmanns Erkenntnistheorie begreift „alles Beobachten als unterscheidungsabhängig, auch das eigene. Sie muß darauf verzichten, dem beobachteten Beobachter ihre Unterscheidungen aufzudrängen.“ Von daher erscheinen alle Beobachter dogmatisch, die für ihre Beobachterposition einen exklusiven, archimedischen Punkt in Anspruch nehmen, von dem aus die Welt sich „wirklich“ beobachten läßt und alle anderen Beobachter in einer optischen Dauertäuschung befangen scheinen.

Man könnte hier einwenden, dieser Dogmatismus habe zumindest etwas Verbindliches, während sonst die Welt in einer Unendlichkeit von Beobachterperspektiven zerspellen und jede soziale Ordnung unmöglich würde. In dem Moment, wo etwa das Rechtssystem erkennen würde, daß die Unterscheidung von Recht und Unrecht nur eine von vielen gleichzeitig möglichen ist, könnte es sich zu keinem Urteil entschließen. Tatsächlich muß es vor der Herkunft der Unterscheidung die Augen verschließen und so tun, als sei das positive Recht keine Setzung, nicht kontingent. Die Kontingenz der Unterscheidung fällt in den „blinden Fleck“ des Systems und wird so laufend verschleiert – „invisibilisiert“. Der blinde Fleck ist beim Auge jener Punkt, in dem der Sehnerv in die Netzhaut trifft und eine unsensible Stelle bildet. Er ist die Voraussetzung allen Sehens. Luhmann spinnt die Metapher zu der These aus, daß jede Beobachtung einen blinden Fleck voraussetze: nämlich das, was jeder gewählten Unterscheidung vorausgeht.

In seinem Hauptwerk „Soziale Systeme“ führt Luhmann vor, wie aus einer einzigen Unterscheidung, der von System und Umwelt, durch rekursive Anwendung ein äußerst komplexes Modell alles Sozialen zu zeichnen ist. Den Kölner Philosophen Günter Schulte interessiert nun nicht, wie Luhmann nach der Entscheidung für diese Unterscheidung weitermacht, um sein komplexes soziologisches System zu schaffen, sondern für das, was auch diese Unterscheidung voraussetzt und ignoriert: den „blinden Fleck in Luhmanns Systemtheorie“. Schulte sieht etwas, was Luhmann nicht sieht, und das ist: Gott!

Schultes Perspektive ist gut gewählt, denn längst nicht jede eröffnet ertragreiche Sicht auf Luhmanns gigantisches opus: Wer etwa nach Biographischem sucht, findet so gut wie nichts. Schulte kann nicht nur zahlreiche Stellen zusammentragen, die theologieverdächtig sind, sondern auch theoriehistorisch argumentieren. Denn der Erfinder des Beobachtungskalküls, George Spencer Brown, hat es anhand der göttlichen Dreifaltigkeit entwickelt: Da jede Unterscheidung dreistellig ist, nämlich die eine und die andere Seite der Unterscheidung sowie die Differenz, die scheidet, selbst, sei „die erste Unterscheidung die erste Dreiheit“ – die „Dreifaltigkeit Gottes“. Ist Gott aber auch der Urheber der ersten Differenz? Luhmann arbeitet mit einem „anonymisierten Autor“ und überläßt diese Frage der Theologie, deren Antwort „Gott“ lautet. Während Luhmann glaubt, Browns Logik und mit ihr die Systemtheorie von der Theologie zu unterscheiden, zeigt Schulte, daß dieses Denken untergründig theologisch, weil ohne Gott als Prämisse undenbkar ist. Gott ist „in der Welt nur als blinder Fleck aller Unterscheidungspraxis (...) präsent“, so wird Luhmann zitiert. Aber da ja bekanntlich jede Unterscheidung einen blinden Fleck hat, ist Gott omnipräsent. Browns Kalkül, das mit der anonymen Anweisung beginnt „Treffe eine Unterscheidung“, hat somit seinen Autor erhalten: die heilige Trinität selbst. Die Systemtheorie „demonstriert Gott als notwendig unsichtbare Einheit der Welt“, die aller Differenz vorausgeht. Luhmanns „Theologie der Unterscheidung“ erscheint Schulte so „als indirekter Gottesbeweis“. Sucht man nun noch nach Analogien zwischen dem Christentum und der Systemtheorie, findet man sie gleich haufenweise. So in Luhmanns Vorliebe für den biblischen Schöpfungsbericht, der als Kaskade selbstreferentieller Unterscheidungen gelesen wird, die zunächst Gott von der Welt differenziert, danach Himmel und Erde, Land und Wasser, Mann und Frau etc. Man könnte auch auf Jesus Sirach verweisen: „Schau auf alle Werke Gottes, paarweis sind sie angeordnet, eines steht dem anderen gegenüber.“ (Sir 33.15) Liegt hier der Ursprung binärer Codierung? Verdankt sich der Code der Wirtschaft diesem Propheten, der schreibt, es gebe „Erfolge für den Menschen, die zum Mißerfolge werden, es gibt wohl auch Gewinne, die Verluste bringen“ (Sir 20.9)?

Keinen Gott ohne Teufel, lautet die binäre Regel Sirachs. Und wenn Gott für den blinden Fleck der Unterscheidung steht, kann der Teufel, kann Luzifer nur ein Lichtbringer sein, kurz: ein Beobachter. „Der Beobachter des Systems im System ist und bleibt der Teufel“, heißt es in Luhmanns Studie über „Die Wissenschaft der Gesellschaft“. Der Teufel war der erste, der in bezug auf Gott eine „Beobachtungsposition, einen Reflexionswert etablieren wollte“, was in Relation zur göttlichen Positivität nur negativ möglich war: „als Prinzip des Bösen (...) Wie anders hätte man Licht in die Welt bringen können.“ Luhmann feiert Luzifers Anmaßung, Gott zu beobachten, als felix culpa und klärt damit nebenbei die alte Frage nach dem Bösen in der Welt. „Der teuflische Beobachter“, kommentiert Schulte, „konnte erst in der systemischen Beobachtung der Beobachtung aus seiner Selbstunterscheidung als böse gegenüber Gott herauskommen. Erst die Systemtheorie macht den Sündenfall des Teufels wieder gut. Luhmanns Systemtheorie ist die Erlösung des (...) schuldig gewordenen Beobachters.“ Die Systemtheorie steht für die Schöpfung Gottes und setzt ihn voraus. Ihre Fähigkeit zur Selbstbeobachtung symbolisiert den Teufel. Damit ist sie ein exaktes Abbild des theologischen Weltbildes. Schulte glaubt, daß Luhmanns „Gottesbeweis der Beweis eigener Göttlichkeit“ sei, die sich über einen Beobachter selbstbestätigt, der notwendig dem „Hause Teufel“ entstammt. Nicht umsonst teilt sich dieser im englischen Sprachraum mit Luhmann einen Spitznamen: „Old Nick“.

Schulte gelangt zu dem Ergebnis, Luhmanns Theorie sei im „Hinblick auf mögliche wissenschaftlich-empirische Evidenz (...) falsch und bedeutungslos“, habe allerdings einen „mystischen Sinn“, der Hegels Einsicht folge, „daß das Mystisch-Spekulative per se das absolut Wahre ist“. Luhmanns diabolische „Weisung: Beobachte den Beobachter“ erinnert ihn an „eine Gesellschaft der verdeckten Ermittlung“, sein „Beobachtungsstil (habe) paranoische Züge“, so pathologisch sei seine Suche nach blinden Flecken, die nur durch Beobachtung der Beobachtung sichtbar zu machen sind. Luhmanns Theologie ist ein Wahnsystem. Schulte diagnostiziert „beginnende Schizophrenie“. Leider begnügt sich Schulte hier mit reinen Analogien, während seine Analyse der theologischen Motive Luhmanns und Spencer Browns immerhin versucht, die theorieinterne Bedeutung zu belegen. Daß Luhmanns theoretischer Stil mit seiner Vorliebe für Dreiwertigkeiten und Unterscheidungen Ähnlichkeiten mit der Theologie hat, ist offensichtlich. Luhmann selbst nutzt dies oft genug zur Illustration. Ob ihn dies allerdings schon zum Theologen macht, ist wohl selbst eine Frage des Glaubens und der Religionszugehörigkeit. Schulte weiß dies als Leser Luhmanns. Auch sein Buch mache letztlich nur „Beobachtungen“, die andere anders machen. Luhmann könnte darauf verweisen, daß ihn wiederum jemand „mit Zitaten ehrt“, das wissenschaftliche Äquivalent für das Gebet. Ein Theologe könnte versucht sein, in Schultes Analyse ein Teufelswerk zu sehen, das die Schöpfung kritisiert, um damit letztendlich ihren Glanz heller erstrahlen zu lassen.

Günter Schulte: „Der blinde Fleck in Luhmanns Systemtheorie“. Campus Verlag, 282 Seiten, zahlreiche Abb., 68DM.