Innere Urtümer

Kleines Panorama aus der geistigen Rezession. Neue Essays von Strauß, Walser, Sloterdijk und Enzensberger  ■ Von Jörg Lau

Was ist denn das für ein komisches Satz-Knäuel, das sich da wie eine Wollmaus in den Ritzen der Erinnerung festgesetzt hat? Können wir das vielleicht mal auseinanderfusseln? Sonst bleibt das nachher ewig hier liegen und verklemmt uns am Ende noch die Festplatte. Daß ein Volk sein Sittengesetz gegen andere behaupten will, und dafür bereit ist, Blutopfer zu bringen, das verstehen wir nicht mehr... Und weil wir aus den allertriftigsten Gründen die Nation so klein und schlecht gemacht haben, deshalb haben Landsleute, die das nicht ertragen wollten oder konnten, den Nationalismus in Pflege genommen... Das neue Große steigt nun hinter dem Horizont auf als die Monster-Internationale der Endverbraucher. Schärfer noch als im Zeitalter der klassischen Politik manifestiert sich angesichts dieser hyperpolitischen Groß-Einheiten eine schreckliche Wahrheit: daß das Kleingruppentier homo sapiens von der Hochkultur überfordert ist... Auch auf dem Kunstmarkt wird der Vandalismus hoch gehandelt. Die tautologischen Kringel der Graffitischmierer wandern unverzüglich ins Museum. Ach herrje! Strauß, Walser, Sloterdijk, Enzensberger. Die Herren Essayisten. Die hätten wir nun fast beim Aufräumen vergessen.

Wie hat das denn gleich angefangen? Richtig. Botho Strauß hatte sich mit der These vorgewagt, daß die durch „die anarchofidele Erst-Jugend um 1968“ auf die Spitze getriebene „Verhöhnung des Eros, die Verhöhnung des Soldaten, die Verhöhnung von Kirche, Tradition und Autorität“ uns die braune Suppe eingebrockt habe, die wir nun auszulöffeln haben. Heute, wo sich zeige, daß der „Aufklärungshochmut“ jenen Kräften nichts mehr entgegenzusetzen habe, die erst durch sein subversives Wirken freigesetzt worden sind, könne uns nur noch der Schrecken eines mythischen Geschicks zur Raison bringen.

Wie man's macht, macht man's falsch: Der eine schalt die Linken Tabuverletzer, dem anderen paßte es nicht, daß sie sich einmal erdreistet hatten, neue Tabus aufzustellen: Martin Walser glaubt, wie er per Spiegel-Essay wissen ließ, daß uns die „Skinheadbuben“ ohne die linke Tabuisierung des Nationalen erspart geblieben wären. Wäre das Nationale keine Leerstelle des linken Diskurses geblieben, wir hätten womöglich heute keine neue Rechte am Hals. Na klar! Die hätten schön dumm aus der Wäsche geguckt, die „Skinheadbuben“ und ihre intellektuellen Mentoren von der „Jungen Freiheit“, wenn die Linken – ätsch! – schon da gewesen wären, wo sie selber hinwollten! Statt dessen haben die doofen Achtundsechziger ihre intellektuelle Hegemonie zu nichts Besserem zu nutzen gewußt, so Walser, als „eine ganze Gruppe Jugendlicher ins Asoziale geraten“ zu lassen, „nur weil ihr Diskurs (der nach rechts tendierende [sic]) überhaupt nicht zugelassen wurde“. Walser wähnte sich mit diesen Äußerungen weit jenseits des bundesrepublikanischen Konsenses. Ein Irrtum – blindes Vertrauen in die heilende Kraft der „Kommunikation“ ist BRD durch und durch: Türken raus? Du, ich weiß nicht, da laß uns lieber noch mal drüber reden.

Peter Sloterdijk faßte später im Jahr die Lage in seinem „Versuch über die Hyperpolitik“ bündig zusammen: „Der Sozialismus hat sich als Asozialismus verwirklicht.“ Schuld an dem beschämenden Zustand ist die hemmungslose Demokratisierung der Gesellschaft, deren Begriff Sloterdijk systematisch mit dem modernen Individualismus verwirrt: „Demokratie ist möglicherweise tatsächlich [sic] ein Deckname für eine Großtendenz der Modernität, die tief in der europäischen Geschichte ansetzt: den neuzeitlichen Individualismus.“ Wohin der führt, wenn maßlos genossen, das sollte sich im Selbstverwirklichungsmilieu herumgesprochen haben: „Man könnte den Eindruck gewinnen, als sei das Ein-Personen-Appartement der Fluchtpunkt der Zivilisation und der Alleinlebende die Krönung eines über Jahrtausende gehenden anthropologischen Verfeinerungsprozesses.“ Der „Demokratismus“ hat den Karren in den Dreck gefahren, wie Sloterdijk mit dem bekannten Demokratietheoretiker M. Heidegger zu bedenken gibt: Demokratie bedeute zwar Volksherrschaft, sei „in der Tiefe jedoch ein Deckwort für ein noch unbegriffenes Verhängnis, das auf die Zerstörung dessen hinarbeite, was angeblich das Herrschende sei, des Volkes im traditionellen vormodernen Sinne.“ Demokratie essen Volksseele auf. Sloterdijk ist sich mit dem Heidegger-Martl „aus Todtnaubergischer Sicht“ einig darin, daß Demokratisierung uns nicht die „Kunst des Zusammengehörens“ lehren kann. Den Völkern der Dritten Welt, bei denen die Volksseele noch im Lot ist, will er darum auch die individualistische Appartement-Verzweiflung gnädig ersparen. Es gibt nicht nur Grenzen des Wachstums, es gibt auch „Grenzen des Demokratie-Exports“!

Hans Magnus Enzensberger ist zwar auch für rigide Exportbeschränkungen in diesen Dingen, hat aber hauptsächlich andere Sorgen, die er in „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ offenlegte. Die überall aufflammenden Bürgerkriege überfordern das moralistische Gemüt des westlichen Medien-Endverbrauchers. Man hat Enzensberger einen Ungerührten, einen Mitleidlosen, einen metallischen Realisten genannt. Zu Unrecht – ihn dauern sogar die kleinen Ladenmädchen, denen das Fernsehen den Kopf verdreht: „Nur Fachleute, die nichts anderes zu tun haben, können sich die hundertfünfzig Völkerschaften merken, die der Zerfall der Sowjetunion freigesetzt hat. Gleichwohl mutet die Tagesschau jeder Verkäuferin aus dem Supermarkt zu, zwischen Inguschen und Tschetschenen, Georgiern und Abchasen zu unterscheiden.“ Weiß auch nicht, was er will: Erst hat er sich über das Fernsehen als Schwarzes Loch des Sinns, als buddhistische Nonsens-Meditationsmaschine lustig gemacht; nun gibt's im „Nullmedium“ endlich wieder was Spannendes zu gucken – so richtig mit Schießereien und Schurken –, und da ist es ihm auch schon wieder zuviel: „Wir sollen uns die Namen von Gangstern merken, die wir kaum richtig aussprechen können, und uns um islamische Sekten, afrikanische Milizen und kambodschanische Fraktionen kümmern, deren Beweggründe uns unverständlich sind und bleiben.“

Was den kleinen Ladenmädchen den Fernsehabend vermiest,

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ist eine Wahrnehmungsstörung namens „universalistische Ethik“: „Der Universalismus kennt keine Differenz von Nähe und Ferne; er ist unbedingt und abstrakt. Die Idee der Menschenrechte erlegt jedermann eine Verpflichtung auf, die prinzipiell grenzenlos ist. [...] Jeder soll für alle verantwortlich sein. In diesem Verlangen ist die Pflicht enthalten, Gott ähnlich zu werden; denn es setzt Allgegenwart, ja Allmacht voraus.“ Die wirren Ladenmädchen, die sich für den Lieben Herrgott halten und an ihrer verrückt gewordenen Schöpfung verzweifeln, lassen Hans Magnus Enzensberger keine Ruhe, und so wirft er sich am Ende mannhaft zwischen seine Patientinnen und ihre skrupellosen Gurus Werner Veigel, Jan Hofer, Ulrich Wickert (und wie sie alle heißen), die die Unbedarften allabendlich in die „moralische Falle“ des Universalismus zu locken versuchen: „Es ist an der Zeit, sich von moralischen Allmachtsphantasien zu verabschieden.“

Mag schon sein, daß die Fernsehabende nach solch schneidigem Lebewohl wieder angenehmer werden. Aber man muß sich doch fragen, warum Enzensberger mit solchem Furor auf den Universalismus losgeht. Es ist schon Hannah Arendt aufgefallen, daß die Menschenrechte „immer das Unglück gehabt [haben], von politisch bedeutungslosen Individuen oder Vereinen repräsentiert zu werden, deren sentimental humanitäre Sprache sich oft nur um ein geringes von den Broschüren der Tierschutzvereine unterschied“. (Die Tierschützer mögen hier bitte den Namen einer ihnen besonders verächtlichen Organisation einsetzen.) Nun kommt das möglicherweise noch größere Unglück hinzu, daß politisch bedeutungsvolle Individuen wie HME anfangen, den Universalismus für seine Ohnmacht und seine naiven Freunde zu verhöhnen. Warum Enzensberger mit Wucht auf die universalistische Moral als „letzte Zuflucht des Eurozentrismus“ eindrischt, versteht nur, wer sich fragt, wovon er nicht spricht. Nicht sprechen mag? Denn Enzensberger weiß natürlich nur zu gut, daß es nicht der hilflose universalistische Moralismus mit seinen „Allmachtsphantasien“ war, der die Menschenrechte auf den Hund gebracht hat. Bei Hannah Arendt, die er selber zitiert, steht genauer zu lesen, was es mit der „Aporie der Menschenrechte“ auf sich hat.

Die Menschenrechte verdanken paradoxerweise dem Nationalstaat ihren Aufstieg zur politischen Leitidee. Mit seinem Verfall sind auch sie in die Krise geraten. Den modernen Staaten, wie sie sich seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Déclaration des droits de l'homme et du citoyen verstanden, diente die Idee der Menschenrechte zur Legitimation. Der Mensch als solcher, jenseits göttlicher, naturrechtlicher oder traditioneller Ordnungen, sollte ihr Maß sein. Das Paradox war von Anfang an, daß jene Rechte, die dem Menschen als einem von allen Autoritäten und Bindungen gelösten Wesen versprochen worden waren, ihm nur als Glied eines Volkes zukamen. Die allgemeinen Menschenrechte konnten in der politischen Wirklichkeit nur von einzelnen souveränen Staaten für ihre Angehörigen – in Form von Bürgerrechten – garantiert werden. Es stellte sich heraus, sagt Hannah Arendt, „daß in dem Augenblick, in dem Menschen sich nicht mehr des Schutzes einer Regierung erfreuen, keine Staatsbürgerrechte mehr genießen und daher auf das Minimum an Recht verwiesen sind, das ihnen angeblich eingeboren ist, es niemanden gab, der ihnen dieses Recht garantieren konnte“. Die aufklärerische Menschenrechtsrhetorik hatte damit selber ein Thema auf die politische Tagesordnung gebracht, dessen Dynamik bald ihre Glaubwürdigkeit untergraben würde: das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“. Die im Namen dieses Rechtstitels geführten Kriege und Bürgerkriege wiederum haben seither – heute mehr denn je zuvor – jene Massenfluchten zur Folge, die mit der Ordnung der Nationalstaaten auch die Menschenrechte untergraben.

Von der Figur des Flüchtlings, des Staatenlosen, von dieser emblematischen Figur der Neuen Weltunordnung her wäre die Aporie der Menschenrechte zu beschreiben. „Staatenlosigkeit in Massendimensionen hat die Welt faktisch vor die unausweichliche und höchst verwirrende Frage gestellt, ob es überhaupt so etwas wie unabdingbare Menschenrechte gibt“, schrieb Arendt 1951. Soeben liegen die neuen Zahlen vom UN- Hochkommissariat für Flüchtlinge vor: 18,2 Millionen Flüchtlinge weltweit außer Landes getrieben; 24 Millionen leben als Bürgerkriegsvertriebene im eigenen Land. Es wäre über eine politische Ordnung und ein neues System zum Schutz der Verfolgten zu reden – nach dem Ende der Menschenrechte und des Nationalstaats. Statt dessen erfreuen unsere Essayisten uns mit nationalen Besinnungsaufsätzen und mutigen Attacken gegen den Pappkameraden der „universalistischen Ethik“.

„Ulrich konnte sich noch gut erinnern, wie das Unsichere wieder zu Ansehen gekommen war. Immer mehr hatten sich Äußerungen gehäuft, wo Menschen, die ein etwas unsicheres Metier betrieben, Dichter, Kritiker, Frauen und die den Beruf einer neuen Generation Ausübenden, Klage erhoben, daß das pure Wissen einem unseligen Etwas gleiche, das alles hohe Menschenwerk zerreiße, ohne es je wieder zusammensetzen zu können, und sie verlangten einen neuen Menschheitsglauben, Rückkehr zu den inneren Urtümern, geistigen Aufschwung und allerlei von solcher Art.“ So steht es im 62. Kapitel von Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ unter dem schönen Titel „Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus“. Frauen sind unter den heutigen Klagenden zwar bezeichnenderweise selten, und auch die den Beruf einer neuen Generation Ausübenden halten sich erfreulich zurück. Dennoch passen diese Sätzen, die sich auf die geistige Lage vor 80 Jahren beziehen, wie ein Handschuh auf die Spitzenprodukte der heutigen inländischen Essay-Produktion. Und wie geht's weiter? „Er hatte anfangs naiver Weise angenommen, das seien Leute, die sich aufgeritten haben und hinkend vom Pferd steigen, schreiend, daß man sie mit Seele einschmiere; aber er mußte allmählich erkennen, daß der sich wiederholende Ruf, der ihm anfangs so komisch erschienen war, einen breiten Widerhall fand.“ Schreck, laß nach!

Peter Sloterdijk: „Im selben Boot. Versuch über die Hyperpolitik“, Suhrkamp Verlag, 83 Seiten, 19.80 DM

Hans Magnus Enzensberger: „Aussichten auf den Bürgerkrieg“, Suhrkamp Verlag, 97 Seiten, 19.80 DM

Hannah Arendt: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, Piper Verlag (1986; Erstausgabe 1955), 758 Seiten, 32.80 DM