Indiens Bauern im Aufstand gegen Gatt

Im Süden wächst der Widerstand gegen das im Gatt-Paket enthaltene westliche Patentregime / Indische Kritiker sprechen von intellektueller Piraterie und neuem Kolonialismus / Der Neem-Baum als Symbol  ■ Aus Bangalore Hermann-Josef Tenhagen

Der Strom der altersschwachen Busse und beladenen Ochsenkarren riß nicht ab. Über 100.000 Bauern eilten Anfang Oktober, mitten in der Erntezeit, in die südindische Metropole Bangalore, um pünktlich zu Ghandis Geburtstag gegen ausländische Saatgutmultis und die geplanten Gatt-Vereinbarungen zu demonstrieren. „Saatgut und genetische Ressourcen des Landes gehören uns!“ lautete der Schlachtruf im größten Stadtpark der Fünfmillionenstadt. Sie würden sich diesen gemeinsamen genetischen Reichtum nicht von den internationalen Konzernen entreißen lassen, riefen die Demonstranten. Nicht von den Multis selbst und auch nicht von einem neuen internationalen Handelsregime, an dem in den Gatt-Verhandlungen gebastelt wird.

Verbale Attacken auf das inzwischen fast zwei Jahre alte Verhandlungspaket des ehemaligen Gatt- Generalsekretärs Arthur Dunkel sind derzeit populär in Indien. Indische Bauernverbände werfen der eigenen Regierung vor, bei dem rund 50seitigen Dunkel-Vorschlag zum Schutz intellektuellen Eigentums ein Paket abzusegnen, das die Interessen der Mehrheit der indischen Bauern ausverkaufe. Patentschutz für neuentwickeltes Saatgut nütze nur den internationalen Saatgutkonzernen, während die Bauern, die gemeinsam über Jahrhunderte verschiedene Sorten entwickelt haben, geradezu enteignet würden.

Für die über Generationen gezüchteten heimischen Tiere und Pflanzen ist kein Eigentumstitel vorgesehen. In den Genlabors der Industrieländer leicht veränderte Rassen gehören hingegen nach den Dunkel-Vorschlägen künftig der verändernden Firma, die dann Gebühren für die Nutzung verlangen kann. Selbst die Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, die FAO, warnte kürzlich, daß die „derzeit vorliegenden Vorschläge gravierende Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung und die Ernährungssicherheit“ in den Ländern des Südens haben könnten. Die Balance zwischen Züchtern und Patentinhabern auf der einen Seite und den Bauern auf der anderen Seite würde gestört.

Der Widerstand der indischen Bauern erschöpft sich nicht in Protestdemonstrationen und Resolutionen. In Bangalore zum Beispiel haben aufgebrachte Landwirte Ende 1992 die Repräsentanz des US-Saatgutmultis Cargill gestürmt. Nach dem Erdbeben Anfang Oktober stellten indische Bauernverbände notleidenden Landwirten im Erdbebengebiet kostenloses traditionelles Saatgut zur Verfügung, damit die nur ja nicht auf ein ähnliches Angebot des US-Konzerns eingingen. In Afrika hätten sich Saatgutkonzerne nach Naturkatastrophen den Bauern angedient, um sie so von sich abhängig zu machen, begründete Bauernführer Nanjundaswami den Schritt.

Die Kritik der Bauern wird von indischen Ökonomen geteilt. Der im Gatt-Paket vorgesehene patentrechtliche Schutz intellektuellen Eigentums (Trips = trade related intellectual property rights) werfe die für das Land maßgeschneiderte Patentpraxis ganz einfach über den Haufen. „Wir müßten unser Patentrecht komplett umschreiben“, so ein Ministerialbeamter. Die indischen Patentgesetze aus dem Jahr 1970 sehen bislang nämlich die Patentierung von Pflanzen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen nicht vor. Wichtiger noch: In Indien können nur Verfahren, nicht aber das Produkt patentiert werden. „Das hat dazu geführt, daß immer neue Firmen mit immer neuen Verfahren preiswertere Produkte herzustellen versuchen. Und dieser Effekt war gewollt“, so Entwicklungsökonom Vinod Vyasulu.

Der Blick auf die USA zeigt den Konflikt, der von den Gatt-Verhandlungen zu überbrücken wäre. Dort können Pfanzenzüchtungen seit 1985 und genmanipulierte Tiere seit 1987 mit Industriepatenten geschützt werden. Derzeit versucht eine Gentechnik-Tochter des W.R.-Grace-Konzerns sogar, alle genetisch veränderten Variationen von Baumwolle durch ein eigenes Industriepatent schützen zu lassen.

Selbst Berechnungen der Regierung in Dehli haben ergeben, daß Indien bei den geplanten Gatt- Neuregelungen dadurch zum Netto-Verlierer würde. Auch dann, wenn im Gegenzug die Märkte der USA und der EG stärker für indische Textilien geöffnet werden. Vor allem die Kosten der Bauern für neues Saatgut würden steigen, verdienen würden nur die internationalen Saatgutfirmen.

Die Aussicht, demnächst womöglich auch noch für selbst nachgezogenes Saatgut Lizenzgebühren an irgendeinen Multi bezahlen zu müssen, versetzt die Landwirte besonders in Rage. Bislang nutzen die meisten indische Bauern nämlich den besseren Teil ihrer Ernte als Saatgut für eine neue Zucht. Neue Saatgutsorten wurden auch nach der Grünen Revolution in Indien nur einmal erworben und dann, wo technisch möglich, selbst nachgezüchtet. Die FAO wirbt sogar öffentlich für diese Art der Selbsthilfe bei Bauern – eine Selbsthilfe, die künftig als Betrug am Patenthalter oder Eigentümer der Zuchtrechte gelten könnte.

Die Experten im Umweltministerium meinen, das Gatt-Regime müßte in diesem Bereich an die 1992 in Rio ausgehandelte Konvention zum Erhalt der biologischen Vielfalt angeglichen werden. Die sieht nach indischer Auffassung vor, daß den Ländern des Südens als Ausgleich für die industrielle Nutzung ihrer genetischen Ressourcen die Techniken für diese Nutzung kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Der Norden behandle den genetischen Reichtum des Südens zunächst als gemeinsames Erbe der Menschheit, um ihn leicht verändert als Eigentum nördlicher Firmen in eben jenen Süden zurückzuverkaufen. Ein frustrierter Beamter im indischen Umweltministerium: „So wie es jetzt aussieht, zerstört Gatt das, was mit der Konvention aufgebaut werden sollte.“

Auf die Frage, warum Indien dann nicht massiver in den Gatt- Verhandlungen interveniere, kommt von den Ministerialbeamten trotzdem nur ein Schulterzucken. Dafür sei das Ministerium leider nicht zuständig. Da werde in der Regierung geschachert, Indien müsse eben bei den Verhandlungen auch etwas aufgeben, um Zugeständnisse zu bekommen.

Die Regierung von Ministerpräsident Narasmha Rao verkündet aus Dehli tatsächlich immer wieder, das Gatt-Paket lasse die indischen Agrarsubventionen unangetastet und erhöhe die Exportchancen für landwirtschaftliche Produkte. Es sei daher für Indiens Bauern „von großem Nutzen“. Das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Denn nur ein kleiner Teil der indischen Bauern produziert für den Export, die Mehrzahl produziert nur für den Eigenbedarf und für lokale Märkte. Diesen Bauern nützen freiere Marktzugänge in Europa nichts.

Die Ausbeutung der genetischen Ressourcen des Südens durch nördliche Konzerne ist allerdings auch ohne die neuen Gatt- Regelungen schon in vollem Gange. Nach FAO-Angaben machen Chemiefirmen heute weltweit einen Umsatz von 43 Milliarden Dollar (75 Milliarden Mark) im Jahr mit Pharmaka, die auf Methoden traditioneller Medizin beruhen. Die indigenen Völker, die die Konzerne erst auf die Spur der Wirkstoffe gebracht hätten, würden davon weniger als ein Promille bekommen.

Ein kleiner Baum wird in Indien jetzt zum Symbol für den Widerstand gegen diese Art der Ausbeutung. Während indische Bauern den robusten, immergrünen Neem-Baum seit mehr als 2.000 Jahren als natürliches Pflanzenschutzmittel für die Seifenproduktion und das Öl der Samen sogar als spermatötende Empfängnisverhütung einsetzen, haben amerikanische Chemiekonzerne wie W.R. Grace und DuPont die Pflanze erst in den letzten 20 Jahren entdeckt und 15 Patente auf die Nutzung von Neem-Wirkstoffen angemeldet.

W.R. Grace hatte durch seine besondere Verarbeitung nur die Haltbarkeit des natürlichen Pestizids Azadirachtin aus dem Neem- Samen erhöht. Waren die Samen früher frei für jeden, der sie sammelte, kauft die indische Tochter des Konzerns den Samen heute tonnenweise auf. Das Geschäft lohnt sich: Der Konzern soll mit dem Patent unter den Namen Margosan-O und Bioneem schon 400 Millionen Dollar Umsatz erwirtschaftet haben.

Der „Karnataka Rajya Raitha Sangha“-Bauernverband und WissenschaftlerInnen wie Vandana Shiva haben jetzt eine Neem-Kampagne ins Leben gerufen. Ziel ist, den Völkern des Südens den freien Zugang zu den natürlichen Ressourcen ihrer Länder zu erhalten. „Wir werden uns unser gemeinsames Eigentum nicht von den nördlichen Piraten nehmen lassen“, erklärt Shiva. Die Anstrengungen der westlichen Patenteigner seien schließlich gar nichts „im Vergleich zu den Anstrengungen, die unsere Kultur unternommen hat, Kenntnisse über den Neem- Baums zu erwerben, zu tradieren und diese Kenntnisse auch den Ärmsten in der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen.“