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■ Die Flexibilisierung der Arbeitszeit gesetzlich zu verankern kann auch im Interesse der Beschäftigten liegenAltes Denken, neue Bedürfnisse: Der DGB muß sich bewegen!

In der Diskussion um die Arbeitszeitflexibilisierung wird immer so getan, als gehe es hier um die Auflösung fester und verläßlicher Konventionen der Arbeitswelt. Das Gegenteil ist schon heute der Fall: Nur noch 24 Prozent der abhängig Beschäftigten haben eine „Normalarbeitszeit“, das heißt sind im Rahmen der tariflich vereinbarten Wochenarbeitszeit, an Werktagen und tagsüber tätig.

Diese Entwicklung ist die Folge der Entkopplung von Arbeitszeiten und Betriebszeiten. Während sich die durchschnittliche Wochenarbeitszeit aufgrund tariflicher Arbeitszeitverkürzungen weiter verringert hat, ist die durchschnittliche Betriebsnutzungsdauer erheblich gestiegen – aus Gründen besserer Kapitalausnutzung. Neuere und teurere Technologien haben die Notwendigkeit nach längeren Maschinenlaufzeiten weiter verstärkt. Auch im Dienstleistungsbereich wurden die Betriebszeiten ausgedehnt. Die Folge: Unternehmerische Strategien zur Innovation des Arbeits- und Betriebszeitmanagements werden mit steigender Tendenz in umfassende betriebliche Neuordnungskonzepte eingebettet.

Nicht nur die Unternehmer, auch die Beschäftigten wünschen sich flexiblere Arbeitszeiten, wenn auch aus anderen Gründen. Nur noch ein Fünftel der ArbeitnehmerInnen ist mit dem derzeitigen Arbeitszeitregime zufrieden. Der Wunsch nach Arbeitszeitverkürzung spielt eine Rolle, eine Mehrheit wünscht sich aber auch eine flexiblere Anpassung an persönliche Lebenslagen und unterschiedliche Lebensphasen.

Sowohl die Motive der Unternehmer als auch die der ArbeitnehmerInnen, die Arbeitszeit neu zu gestalten, lassen sich im Rahmen eines starren Zeitregimes nicht mehr verorten. In der Flexibilisierungsdiskussion wird dabei oft unterstellt, daß sich die Interessen der ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen diametral gegenüberstehen. Auf der Arbeitgeberseite werden die Flexibilisierungstäter vermutet, auf der Arbeitnehmerseite die Flexibilisierungsopfer. Dieser Gegensatz läßt sich aber empirisch nicht bestätigen. Vielmehr zeigt die Bestandsaufnahme, daß auf beiden Seiten sowohl „Zeitpioniere“ als auch „Zeitkonventionalisten“ zu finden sind.

Bisher nützt die Arbeitgeberseite vor allem die „klassische“ Flexibilisierung, wie sie sich durch Mehrarbeit, Kurzarbeit, Schichtarbeit, Nachtarbeit, Wochenendarbeit, gleitende Arbeitszeit und Teilzeit darstellt – ergänzt durch befristete Anstellung, Leiharbeit und andere Beschäftigungsformen. Auf der Arbeitgeberseite besteht also durchaus auch ein „Zeitkonservatismus“.

Die Gewerkschaftsseite und die betrieblichen ArbeitnehmerInnenvertretungen hatten ebenfalls lange Zeit große Schwierigkeiten, sich mit zeitlichen Umstrukturierungen anzufreunden. Sie befürchteten eine Schwächung kollektiver Normen und damit der eigenen Macht. Jedoch wächst hier die Einsicht, daß wertvolle Gestaltungsspielräume brachliegen würden, beschränkte man sich nur auf eine Politik der Folgenbegrenzung von Flexibilisierungsanstrengungen der Arbeitgeberseite.

Die Normalarbeitszeit unterliegt somit der Erosion – im bisher geltenden Arbeitszeitrecht wird dem jedoch nicht Rechnung getragen. Das „Normalarbeitszeitverhältnis“ – verstanden als lebenslange kontinuierliche Vollzeitarbeit – ist hier noch immer der Ausgangspunkt des Schutzgedankens. Unter dem Stichwort „Deregulierung“ bekanntgewordene Reformen haben dieses Idealbild zwar partiell durchlöchert (Beschäftigungsförderungsgesetz), jedoch einseitig zugunsten der Unternehmerseite. Die Flexibilisierungswünsche der ArbeitnehmerInnen finden weder durch die alten noch durch die neuen Rechtsformen Unterstützung. Die Folge: Abweichungen von der Normalarbeitszeit fallen aus dem Schutzbereich des Rechts heraus oder werden nur mangelhaft abgedeckt. Aufgrund der Verknüpfung von Arbeitszeit und sozialer Sicherung werden damit auch Probleme in den Bereich des Sozialrechts transportiert und umgekehrt.

Zwei wesentliche Defizite des Rechts lassen sich feststellen: Erstens stellt das Recht keine geeigneten Instrumente zur Ausbalancierung der Arbeitszeitinteressen bereit. Was fehlt, ist ein rechtliches Instrument, das den ArbeitnehmerInnen betriebliche Durchsetzungschancen zur Verwirklichung ihrer Arbeitszeitwünsche einräumt. Dies betrifft auch den Rechtsanspruch auf Rückkehr in den „Normalstatus“ bei einzelvertraglich ausgehandelten Sonderfällen, z. B. Teilzeit. Zweitens ignoriert das Recht die Unterschiedlichkeit der Lebenslagen von Individuen (zum Beispiel zwischen Männern und Frauen) sowie ihrer subjektiven Interessen. Damit trägt es zumindest indirekt, zum Teil aber auch direkt, zur Diskriminierung und Marginalisierung jener ArbeitnehmerInnen bei, deren Zeitpräferenzen vom Raster der Normalarbeitszeit abweichen. Besonders kraß kommt dieses Problem bei der geringfügigen Beschäftigung zum Ausdruck.

Auch der Regierungsentwurf zum neuen Arbeitszeitgesetz ist in dieser Hinsicht kein Fortschritt. Das Hauptproblem an ihm ist allerdings nicht, daß er die Begrenzungen zur Lage und Dauer der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit lockert, um das Arbeitszeitrecht für interne Flexibilisierung zu öffnen. Massive Kritik verdient dieser Entwurf, weil er einseitig nur der Arbeitgeberseite Wahlmöglichkeiten zugesteht, während den ArbeitnehmerInnen keinerlei Rechte zur betrieblichen Durchsetzung ihrer Arbeitszeitpräferenzen zugestanden werden. Letzteres gilt leider auch für den Gegenentwurf der SPD-Fraktion.

Ebenso stellen die tariflichen Regelwerke hier in der Mehrzahl keinen Fortschritt dar. Teilzeitarbeitsplätze sind unzureichend geschützt und werden bestenfalls gegen geringfügige Beschäftigungsverhältnisse abgegrenzt. Die ArbeitnehmerInnen, die nur wenige Stunden erwerbstätig sein können, werden damit in Beschäftigungsbereiche mit noch schlechteren Bedingungen abgedrängt.

Diese Diskriminierungen betreffen besonders Frauen beziehungsweise Mütter mit kleinen Kindern. Wer von der Standardarbeitszeit abweicht, muß grundsätzlich vielfältige Nachteile in Kauf nehmen: niedrigere Eingruppierung, schlechter bezahlte Arbeitsmarktsegmente, Abstiegsrisiken. Die Marktrisiken sind für TeilzeitarbeitnehmerInnen verstärkt.

Es gibt allerdings Ausnahmen. So räumt der Manteltarifvertrag der Papier- und Kunststoffverarbeitung ArbeitnehmerInnen die Möglichkeit ein, die Arbeitszeit aus persönlichen Gründen vorübergehend für die Dauer von bis zu vier Jahren zu reduzieren oder durch unbezahlte Freistellung zu unterbrechen. Außerdem können Beginn und Ende der individuellen täglichen Arbeitszeit in begründeten Fällen von der allgemeinen Betriebszeit abweichen oder kann die regelmäßige Arbeitszeit im bestimmten Rahmen (z. B. bei Mehrschichtbetrieben für einen Zeitraum von 18 Wochen) ungleichmäßig verteilt werden. Am weitesten hat sich die HBV mit dem Entwurf „Tarifvertrag Pilotprojekt Arbeitnehmerorientierte Arbeits- und Arbeitszeitgestaltung, Personalplanung und Personalbemessung“ hervorgewagt, der zur Zeit im Versicherungsgewerbe verhandelt wird. Er verlangt, daß ArbeitnehmerInnen größere individuelle Wahlmöglichkeiten bei der betrieblichen Arbeitszeitgestaltung eingeräumt werden.

Fazit: Es ist also keineswegs so, daß eine Anpassung des Rechts an die Individualinteressen zu einem kollektiven Machtverlust der ArbeitnehmerInnenseite führen würde: vielmehr grenzt gerade die normative Mißachtung von Individualinteressen eine zunehmende Anzahl von ArbeitnehmerInnen aus dem Gesamtkollektiv aus. Wird diese Dynamik weiterhin ignoriert, bleibt am Ende unter Umständen nur ein auf ein Residuum zusammengeschrumpftes Restkollektiv von „NormalarbeitnehmerInnen“ übrig – neben einer großen Mehrheit dann tatsächlich individualisierter ArbeitnehmerInnen. Die Ausdifferenzierung der Arbeitszeitinteressen muß also auch von den Gewerkschaften ernster genommen werden als bisher – sonst kann gerade diese Ausdifferenzierung der gewünschten Kollektivität und damit auch solidarischem Handeln mehr und mehr entgegenstehen.

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