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Anchorman Heinrich Heine

Norderney, das älteste deutsche Nordseeheilbad, gestern und heute: Blutarme Eingeborene und trinkselige Vereinsmeier, gediegene Kuranlage und Radler-Lawine, rechtslastiges Kurparlament und linksdrehender Leuchtturm  ■ Von Günter Ermlich

„Die Eingeborenen sind meistens blutarm und leben vom Fischfang“, notierte Heinrich Heine, der Nordsee-Fahrer, als er 1826 auf Norderney Quartier nahm. „Viele dieser Insulaner dienen auch als Matrosen auf fremden Kauffahrteischiffen und bleiben jahrelang vom Hause entfernt.“ Außer diesem Gewerbe zur See lebten diese „Eingeborenen“ von angestrandeten Gütern wie Reis, Weizen, Früchten. Oder auch mal von der Ladung gestrandeter Schiffe.

Aber bereits 1797 begann eine neue Insel-Ära. Norderney wurde als erstes Nordseeheilbad gegründet. Schon in der ersten Saison kamen 250 Badegäste in das 573-Seelen-Fischerdorf. Die Erstausstattung des Seebades war schlicht: Ein strohgedecktes Haus zum Klönschnack, vornehm Konversationshaus bezeichnet, ein Warmbadehaus mit drei Badewannen, nach Geschlechtern getrennte Strandbäder mit hölzernen Badekutschen. 70 Ein- und Zweibettzimmer standen bereit für 3 1/2 Taler Wochenmiete. Doch die Einheimischen waren seinerzeit noch innovationsgehemmt. „Sie waren eben Insulaner, die sich mit Neuerungen nicht leicht befreundeten“, vermerkte ein Prediger in einer Inselchronik 1853. Sie glaubten, daß das Badeleben „nur eine phantasmagorische Erscheinung war, die plötzlich auftaucht, um dann wieder zu verschwinden.“

Dem war mitnichten so. Mit dem Friedensschluß des Wiener Kongresses 1815 kam Norderney unter die Fittiche des Königreichs Hannover. Nach dem Vorbild der englischen Seebäder Brighton und Margate wurde die ostfriesische Insel zum elitären Bad der Hautevolee: Adel, Diplomatie, Finanzkreise und Geistesgrößen kamen und kurten. Zumal auch Kronprinz Georg von Hannover hier zu verweilen pflegte. Als König Georg V. verlegte er seine sommerliche Hofhaltung auf das Eiland. Noch heute brüstet sich Norderney mit seinen VIPs von damals: Wilhelm von Humboldt und Dr. Eckermann, von Bismarck und von Bülow, Fontane und Heine.

Apropos Heine. Am Nordweststrand, just auf der Düne, wo heute das Café „Marienhöhe“ steht, ließ er sich zum Lied „Am Meer“ inspirieren, das später von Schubert vertont wurde. Da Fontane es nur bei schnöden Briefen an seine liebe Frau Emilie beließ, mußte Heine als literarischer Kronzeuge herhalten. Seine Ode an den blanken Hans – „Ich liebe das Meer so wie meine Seele“ – setzt Norderney werbeträchtig zum Kundenfang ein. Vor dem Kurtheater, einem „Kleinod der Theaterarchitektur“, sitzt der deutsche Demokrat Heine seit 1983 als bronzenes Denkmalsopfer von Arno Breker, dem prominentesten Bildhauer der Nazizeit. Trotz aller politischen Bedenken hatten die Norderneyer Ratsvertreter einstimmig beschlossen, die mit 160 cm lebensgroße Heine- Plastik der Düsseldorfer „Gesellschaft Heinrich-Heine-Denkmal e.V.“ als Geschenk anzunehmen. Dies löste sowohl in der insularen Öffentlichkeit wie in den bundesdeutschen Medien eine heftige konträre Diskussion aus.

1866 verleibte Preußen das Königreich Hannover ein und übernahm kurzerhand die Norderneyer Badeverwaltung, die komfortable Überschüsse erwirtschaftete. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Norderney niedersächsisches Staatsbad. Die Norderneyer Bürger machten ihre Kommune zum Sozi-Bad und wählten immer stramm SPD. Schmunzelnd erzählt Kurdirektor Garrelf Remmers ein Inseldöntje: „1873 wurde der Leuchtturm, eine Reparationsleistung der Franzosen ans deutsche Reich, errichtet. Das Feuer, das von der Loire stammt, dreht – das ist ganz ungewöhnlich – links herum. Durch diesen Linksdrall ist Norderney auch links geleitet.“

Norderney-Stadt. Gesichtslose mehrgeschossige Hochhäuser dominieren die Seefront des urbanisierten Westkopfes. Pensionen und Gästehäuser des letzten Jahrhunderts mit ihren Loggien und Säulenterrassen, Türmchen und Erkern, wurden verdrängt. Eben die üblichen Bausünden der 60er Jahre.

Doch einige architektonische Perlen des Gründerzeit-Baubooms haben überlebt. Wie das Strand-Hotel „Belvedere“, die ehemalige Villa Fresenius im Tudorstil, aus der Kanzler von Bülow von 1900 bis 1908 des Sommers die Reichspolitik schaukelt. Oder das klassizistisch geprägte „Haus der Schiffahrt“, in dem auch „Deutschlands einziger Bahnhof ohne Schiene“ logiert. Besonders das Ensemble der Kuranlagen, vor 150 Jahren angelegt, strahlt immer noch Großzügigkeit aus. „Wir werden beschimpft, daß wir den Autoverkehr zulassen, doch wir haben keine Alternative“, wehrt sich Kurdirektor Remmers. Bei den Ausmaßen der Insel, 14 Kilometer lang und maximal zwei Kilometer breit, sei der Transport wie früher mit Pferdefuhrwerken nicht mehr zu bewerkstelligen. Seit 1953 bereits gibt es „Kraftfahrzeugsperrmaßnahmen“. Von Ostern bis Oktober dürfen die Urlauber ihr Auto im Stadtgebiet nur noch als „Kofferkuli“ zum An- und Abtransport benutzen. Doch allen verkehrstechnischen Reglementierungen und abschreckungswürdigen Fährkosten (weit über 100 Mark pro Auto) zum Trotz: 70 Prozent der Gäste lassen es sich nicht nehmen, ihren vierrädrigen Wurmfortsatz mit auf die Insel zu nehmen.

Noch mehr zu schaffen macht indes die Radfahrer-Lawine. Da hat Norderney das Rad als adäquates Inselvehikel wegen des Naturerlebnisses propagiert – und dann das! „Das Miteinander der Fußgänger und Radfahrer ist das Problem“, stellt der Kurdirektor fest, meint aber das aggressionsbeladene Gegeneinander. Denn die Masse Fußgänger muß sich mit der Masse Radfahrer die attraktiven asphaltierten Dünenwege und die meterschmalen Deichwege teilen.

Bis zur Inselmitte können Leibesuntüchtige oder -unwillige ihr Auto ausfahren. Dann geht es nur noch per pedes weiter. Der Pfad führt durch die Salzwiesen des Osthellers. Links die Dünen, rechts das Wattenmeer. Schützende Deiche gibt es an dieser Stelle nicht. Bei Sturmfluten wird das Gebiet oft überspült. Legionen von Austernfischern, Großen Brachvögeln, Alpenstrandläufern und Brandgänsen veranstalten in der Balzzeit einen Höllenlärm. Der Weg ist das Ziel, heißt es. Doch alle Wanderer haben hier nur ein Ziel vor Augen: Das Wrack. Halb eingegraben wie eine Krabbe vergammelt der Rest des graffiti-bunten Muschelbaggers auf der östlichen Inselspitze. 1967 verendete er hier, als er einen gestrandeten Heringslogger befreien wollte. Schwarze Punkte bewegen sich schnell im Wasser. Ins Fernglas gucken neugierige Seehundsaugen. Die kleine Nachbarinsel Baltrum ist zum Greifen nahe.

Als Ökogütesiegel-verdächige Modellinsel will sich Norderney nicht profilieren. Kurdirektor Remmers weiß „denn auch verdammt noch mal nicht, was hinter dem Schlagwort des Sanften Tourismus steckt“. Keine Verpackungsmaterialien auf dem Frühstückstisch, umweltverträgliche Materialien beim Bau, ein vernünftiges Ortsbild. Alles in Ordnung. Aber beim Hallenbad geht es für Remmers, den gelernten Diplomingenieur, wegen der Hygiene nun mal nicht ohne Chlor.

Seit 1986 ist Norderney als Bestandteil des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer in Ruhe-, Zwischen- und Erholungszonen eingeteilt. Im Einklang mit den anderen ostfriesischen Gemeindeverwaltungen und Kurdirektionen wettern die Insel-Verantwortlichen gegen den Entwurf eines Tourismuskonzepts der Nationalpark-Verwaltung Niedersächsisches Wattenmeer. Besonders gegen den darin geforderten absoluten Vorrang der Natur „wollen wir aus touristischer Sicht dagegenhalten“, erklärt der Kurdirektor. „Weil wir die Menschen nicht an der Leine führen und die Inseln zu Sanddünen zurückentwickeln wollen.“ Zwei zweifelhafte Einrichtungen sind allerdings schon lange auf der Insel ansässig: Seit dem Ersten Weltkrieg der Flughafen, der laut Inselprospekt 200 Starts und Landungen pro Tag „verkraften“ kann. Und seit 1930 der Golfplatz nebenan in den Dünen – lange vor der großen Golfhysterie.

Wie wäre es, für grundsätzliche Fragen der vorausschauenden touristischen Inselentwicklung, das „Kurparlament“ in modernem Gewand wiederaufleben zu lassen? Diese wohl einmalige touristische Institution, die von 1886 bis zum Ersten Weltkrieg Bestand hatte, war ein Sprachrohr der Stammkurgäste, notabene erzkonservative, kaisertreue Vertreter. Um Wohl und Wehe ihrer geliebten Urlaubs-Heimat besorgt, setzten sie sich für eine bessere Insel-Infrastruktur ein: Neue Straßen, ein ausgebauter Seesteg, mehr sanitäre Einrichtungen, Spielplätze für die Kinder, günstigere Eisenbahnfahrpläne. Das patriotische Ziel dahinter: den in die belgischen und holländischen Seebadeorte abfließenden Gäste- und Geldstrom den heimischen Inselbädern zurückzuführen.

Ein rechtes Unikum ist das Kaiser-Wilhelm-Denkmal im Norderneyer Zentrum. Auch eine Initiative des Kurparlaments. Zur Erinnerung an die Reichsgründung wurden anno 1898 Felsblöcke aus 61 deutschen Städten zu einer Pyramide aufgetürmt. Heute thront eine fette Gipsmöwe an der Stelle, wo einst die bronzene Kaiserbüste stand, die als Kanonenfutter „1914-1918 dem Vaterland geopfert“ worden war.

Norderney ist von Kopf bis Fuß auf Tourismus eingestellt. „Keine Vermietung!“ steht auf dem Pappschild am „Haus Else“. Kaum zu glauben. Doch die Gästestatistik spricht Bände: 1992 haben 180.000 Urlauber in 25.000 Betten gelegen und insgesamt 2,9 Millionen mal übernachtet. Im Juli und August, wenn die Insel pickepackevoll ist, treten sich 35.000 bis 40.000 Leute auf die Füße. Nur gut, daß das vollbiologische Klärwerk („Kläreffekt 95 Prozent“), von Windenergie betrieben, in weiser Voraussicht für 50.000 Einwohner ausgelegt wurde. 25.000 Urlauber, 1.500 Zweitwohnungsbesitzer, Tausende von Tagesgästen und 2.500 Saison-Arbeitskräfte lassen die gerade mal 6.500 Einheimischen in touristischen Hoch-Zeiten enger zusammenrücken.

Wo der Sommer gästemäßig ausgereizt ist, heißen die Zauberformeln „Saisonverlängerung“ und „Ganzjahresbetrieb“. Deshalb ist auch das antiquierte Meerwasserwellenbad, 1931 das erste seiner Art in Europa, vor zwei Jahren in eine wetter- und saisonunabhängige Freizeit- und Badelandschaft mit allem Schnickschnack („Die Welle“) umgemodelt worden. 28 Millionen Mark hat der Spaß für das „Insel-Erlebnis Nr. 1“ (Eigenwerbung) das Land Niedersachsen gekostet.

Und im Frühjahr und Herbst sind die Vereinsmeier aus dem Ruhrgebiet und dem Sauerland reif für die Insel. Vorwiegend Kegelbrüder und -schwestern lassen dann in drei, vier tollen Tagen anstelle einer Meerwasser-Trinkkur bei Jever-Pils und Küstennebel- Schnaps die Sau raus. Mit gemischten Gefühlen begegnet Kurdirektor Remmers diesen Sportsfreunden: „Sie machen uns etwas Sorge. Von den 2.000 Kurzreisenden prägt eine Randgruppe von vielleicht 300 das Bild.“ Besondere Arbeitskreise aus Kurverwaltung, Hoteliers und Gastronomen haben sich des Problems angenommen.

Nach und nach, erzählt ein schnittiger, braungebrannter Taxifahrer, würden alle Straßen rot gepflastert. Jedes Jahr eine. Ach woher, Verschwendung sei das nicht. „Wir können uns das doch leisten, weil wir in den letzten Jahren immer gute Saisons gehabt haben.“ Nicht nur für ihn ist das ökologische Horrorjahr 1988 längst ad acta gelegt, als Algen-Schleim das Meer verunzierte und Salmonellen-Präsenz (Auslöser war ein Kälbermastbetrieb im Emsland) ein vierwöchiges Badeverbot bedeuteten. Norderney schwimmt auf der Erfolgswelle und ist fast das ganze Jahr en vogue. „Nur zwischen Mitte Januar und Ende Februar sind wir Norderneyer allein“, sagt der Taxifahrer im Unterton der Erleichterung. Für vier Wochen wird der Urlaubsdiener zum Urlaubnehmer: „Dann ist für mich die Südsee angesagt.“

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