■ Es gibt Chancen für eine humane Neugestaltung des gesellschaftlichen Systems der Arbeit
: Voraussetzungen einer Offensive der Lebenswelt gegen die Systemwelt

Das zynische Wort von Deutschland als „kollektivem Freizeitpark“ klang noch in den Ohren nach, als der von Mißmanagement und Absatzkrise gebeutelte VW-Konzern mit dem Projekt einer Viertagewoche für seine Beschäftigten an die Öffentlichkeit trat. Das Tor für eine erneute Debatte um Arbeitszeit und Arbeitsplätze wurde einen Spalt geöffnet. Vom „Weg ins Paradies“, den der französische Sozialphilosoph André Gorz Mitte der achtziger Jahre mit seiner Vision einer radikalen Verkürzung und Individualisierung der Lebensarbeitszeit vorgezeichnet hat, sind wir allerdings noch weit entfernt. Jede Veränderung des Systems der gesellschaftlichen Arbeit, und damit jede signifikante Reduzierung der Arbeitszeit hat sich der Frage zu stellen, welche emanzipatorischen Potentiale damit verbunden sind.

Arbeitszeitverkürzung, so könnte man die Kriterien formulieren, darf nicht allein eine Vergrößerung des täglichen, wöchentlichen oder jährlichen Zeitvolumens der abhängig Beschäftigten bedeuten, sie muß auch das Interventionspotential in die gesellschaftlichen Herrschafts- wie Krisenstrukturen steigern.

Um solchen Kriterien zu genügen, müßte ein Projekt einer allgemeinen Viertagewoche eine ganze Reihe von Minimalbedingungen erfüllen. Ökonomisch gälte es, den breiten Korridor zwischen Kosten- und Nachfrageeffekten einer Arbeitszeitverringerung durch politische Maßnahmen zu verengen: Jede proportionale Reduzierung der Tariflöhne hätte unweigerlich einen Nachfragerückgang zur Folge, der das zyklische Problem einer Nachfragelücke zu einem strukturellen Problem machen würde. Arbeitszeitverkürzungen mit weitgehendem Lohnausgleich wiederum würden entweder über die damit generierte Steigerung der Lohnstückkosten die Wettbewerbsfähigkeit senken und so die Zahl der Arbeitslosen steigen lassen und/oder einen derartigen Rationalisierungsdruck aufbauen, daß die Zahl produktivitätsbedingter Freisetzungen schnell wachsen würde. Zur Lösung dieses Dilemmas müßte die staatliche Besteuerung des knappen Gutes Arbeitsplatz reduziert und zugunsten eines ökologischen Steuersystems ersetzt werden. Gewerkschaftlich gälte es, sich als gesamtgesellschaftliche Institution zu häuten, die Interessen von Arbeitsplatzinhabern und Arbeitsplatzsuchenden solidarisch zu organisieren. Politisch gälte es, das allein auf Lohnarbeit und ein fiktiv gewordenes Normalarbeitsverhältnis zentrierte Sozialsystem auf die neuen Gegebenheiten fragmentierter und differenzierter Phasen in den Erwerbs- und Lebensbiographien umzustellen. Um die im Projekt einer Viertagewoche angelegte Offensive der Lebens- gegenüber der Systemwelt zum Tragen zu bringen, bedürfte es, kulturell, einer parallel angelegten Politik der freien Zeit, die gleichsam einen Schutzgürtel gegen alle Versuche einer „sekundären Ausbeutung“ (Negt) durch die Bewußtseinsindustrie schafft.

Die Chancen für eine Neugestaltung des gesellschaftlichen Systems der Arbeit sind da. Unter der Bedingung einer die politische Stabilität bedrohenden Verfestigung von Massenarbeitslosigkeit auf hohem Niveau gilt es heute, bloß defensiv vorgetragene Initiativen auf ihre gesamtgesellschaftlichen Wirkungen hin zu radikalisieren. Kurt Hübner

Der Autor lehrt Wirtschaftswissenschaften an der FU Berlin