Am Selbstmord des RAF-Mitglieds Wolfgang Grams darf weiter gezweifelt werden – auch wenn heute das Gutachten der Züricher Stadtpolizei zu Bad Kleinen Eigenverschulden nahelegen wird. Von Gerd Rosenkranz und Wolfgang Gast

Bad Kleinen im Vollwaschgang

Sehnsüchtig erwartete die Staatsanwaltschaft Schwerin das Päckchen aus der Schweiz. Seit Dienstag ist es da. Fast fünf Monate nach der dramatischen Ballerei, die am Bahnhof von Bad Kleinen dem RAF-Mitglied Wolfgang Grams und dem GSG-9-Beamten Michael Newrzella das Leben kostete, soll der Abschlußbericht des Wissenschaftlichen Dienstes der Züricher Stadtpolizei einen Schlußstrich ziehen unter den desaströsen Polizeieinsatz und unter den schrecklichen Verdacht, Grams sei von einem Beamten der Elitetruppe regelrecht hingerichtet worden. Kein Zweifel, aus den vorsorglich zum Hort unbestechlicher Objektivität stilisierten Züricher Labors des Dr. Pfister wird bei der heutigen Bescherung das von der politischen Elite in diesem Land, dem Staatsschutzapparat und den GSG-9-Einheiten erhoffte Signal ertönen: Grams erschoß erst Newrzella und richtete sich anschließend selbst.

Der Vollwaschgang wurde vorsorglich schon vor Wochen eingelegt. In insgesamt vier schmalen, aber großartig als „vorläufige Teilergebnisse“ qualifizierten Voraberklärungen bliesen die Schweriner Staatsanwaltschaft und der mecklenburgische Justizminister gemeinsam Entwarnung. Die Todesumstände des mutmaßlichen Terroristen seien „widerspruchsfrei durch Selbstbeibringung“ zu erklären. Parallel verlief die öffentliche Demontage jener beiden Zeugen, die behauptet hatten, der namenlose GSG-9-Beamte mit der Codenummer6 habe Grams getötet. Sowohl der am Einsatz beteiligte, anonyme Beamte (Spiegel-Zeuge) als auch die Kioskverkäuferin Joanna Baron seien „in ihren zentralen Aussagen unglaubwürdig“. Glaubwürdig sind dagegen 22 (!) einsatzbeteiligte Zeugen, die „mit den phantasievollsten Begründungen“, so ein Schweriner Ermittler Mitte Juli, alle dasselbe sahen. Nämlich nichts.

Der kollektive Blackout gerät manchen Winkeldenkern inzwischen gar zum Beleg der Selbstmordthese. „Wenn es diesen angeblichen Gruppenzwang (in der GSG-9; d. Red.) gäbe“, meldete sich aus seinem Schmollwinkel der geschaßte Generalbundesanwalt Alexander von Stahl in der Woche zu Wort, „dann wäre es das einfachste gewesen, sich auf die Selbstmordversion zu einigen“. Gerrit Schwarz, Leitender Oberstaatsanwalt in Schwerin, nickte zustimmend und erzählte diese Sicht der Dinge der Süddeutschen Zeitung weiter. Die SZ-Kollegen wiederum waren beeindruckt und können dem verkorksten Gesamtkomplex Bad Kleinen seither nur noch einen „bösen Verdacht“ abgewinnen: daß neben einer sensationslüsternen Öffentlichkeit auch „die Polizeiführung einige Zeit selbst daran glaubte, daß es etwas zu vertuschen geben könnte“.

In Wirklichkeit hätte das GSG-9-Kommando die Selbstmordvariante nur dann erzählen können, wenn sie den Tatsachen entsprochen hätte. Sonst nämlich hätten die Beamten fürchten müssen, daß unbeteiligte Zeugen, von denen sich manche auf dem Bahnsteig und andere im stehenden Zug auf dem Nachbargleis 5 befanden, die kollektive Lüge umgehend aufdecken würden. Es bleibt dabei: Die Tatsache, daß niemand einen Selbstmord Wolfgang Grams' gesehen hat, macht ihn nicht wahrscheinlicher. Die gezielte Tötung des bereits wehrlosen Grams behaupten immerhin zwei Zeugen.

Die Kioskverkäuferin Joanna Baron, die den Tathergang aus nächster Nähe, aber mit Unterbrechungen beobachtete, stand anschließend unter Schock. Ihre Wahrnehmungen sind teils unpräzise, teils widersprüchlich. Am 5. Juli, dem Tag nach dem Rücktritt des Bundesinnenministers, nahmen Staatsanwaltschaft und LKA die Frau acht Stunden lang in die Mangel (laut Protokoll von 10.20 Uhr bis 18.14 Uhr).

Zwei Aussagen an diesem Tag lassen die Vernehmer aufatmen. Das Undenkbare hat möglicherweise doch nicht stattgefunden. An den ersten Mann, den Beamten Nummer6, erinnerte sie sich so: „Er bückte sich und hielt auch eine Pistole in der Hand. (...) Ob er nun geschossen hat, weiß ich nicht mehr, denn ich habe kein Feuer mehr gesehen.“ Zu ihrer eidesstattlichen Erklärung gegenüber „Monitor“ erklärt Joanna Baron auf bohrende Nachfragen und entgegen dem Wortlaut des von ihr unterzeichneten Papiers: „Ich habe nie gesagt, er hat auf den Kopf geschossen.“ Trotzdem, auch während dieses Vernehmungsmarathons wiederholt sie mehrfach ihre Überzeugung, daß aus nächster Nähe auf den liegenden Grams geschossen wurde.

Am 9. August, Frau Baron erscheint zu weiteren Vernehmungen mit einem Anwalt, kehrt sie zum Kern ihrer Aussage zurück: „Dann sah ich eine Person (Grams; d. Red.) liegen. Ein paar Sekunden später bückte sich eine Person und feuerte noch einmal ab. Das habe ich ganz laut gehört.“ Warum sollte Frau Baron sich ihre Geschichte ausgedacht haben?

Und der Spiegel-Zeuge? Der Mann, immer noch anonym, hochqualifiziert und am Einsatz in Bad Kleinen mit Sicherheit beteiligt, hat sich gegenüber dem Spiegel als Augenzeuge der Tötung von Wolfgang Grams präsentiert. Daran bestehen inzwischen erhebliche Zweifel. Trotzdem muß nicht sachlich falsch sein, was der Beamte sagt, der sich nach eigenen Angaben „aus Seelennot“ offenbart hat. Er konnte aus nächster Nähe verfolgen, was nach dem desaströsen Einsatz unter den unmittelbar Beteiligten geredet wurde. Er kannte vermutlich die Aussage der Zeugin Baron und wußte von dem aufgesetzten Kopfschuß, der Grams tötete. Die „Seelennot“ wurde unerträglich, als beides der Öffentlichkeit tagelang vorenthalten wurde. Was, wenn nicht „Seelennot“, soll den Zeugen bewogen haben, sich dem Spiegel anzuvertrauen.

Es gibt keinen widerspruchslosen Nachweis dafür, daß Wolfgang Grams sich am 27. Juni in Sekundenfrist zum Selbstmord entschloß. Es gibt im Gegenteil erhebliche Indizien, die eine Hinrichtung nahelegen. Aber auch dafür fehlt der letzte Beweis. Gelingt die Aufklärung nicht, wird nicht nur die radikale Linke in Zukunft regelmäßig an die „Ermordung von Wolfgang Grams“ erinnern. Man wird dafür seriöse Argumente anführen können. Das unterscheidet Bad Kleinen von Stammheim.