Plüschtiere reiten

„Abject Art“ aus Haaren, Dreck, Exkrementen, Blut: Mike Kelleys katholische Neigungen im New Yorker Whitney Museum  ■ Von Christopher Phillips

Es ist einfach krank!“ Achtet man auf die Besucher der Mike-Kelley-Retrospektive im Whitney Museum, lassen sich Reaktionen beobachten, wie sie in New Yorker Museen lange Jahre nicht mehr zu sehen waren – Schock, Ungläubigkeit und absolute Verwirrung. Kelleys Bewunderer beschreiben sein Werk zwar als das unberechenbarste und innovativste der amerikanischen Kunst seit Bruce Naumans Skulpturen und Installationen in den sechziger Jahren, aber selbst die ausgebufftesten Kunstgänger der New Yorker Szene waren auf eine solch gezielte Maß- und Hemmungslosigkeit der über 170 Arbeiten – Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen, Fotos, Installationen und Performance-Videos – nicht vorbereitet. Kelleys Themen und Materialien entstammen der tiefsten amerikanischen Junk-Kultur, wie etwa seine berüchtigten Skulpturen aus Plüschpuppen vom Flohmarkt oder aus An- und Verkaufsläden. Ein Gang durch die Retrospektive ist wie eine Wanderung durch den Kopf eines pervers erfinderischen Jugendlichen, der sich eine bizarre „Parallelwelt“ aus belanglosen Teilen und Bruchstücken seiner Alltagswelt erbaut hat.

Der 39jährige Mike Kelley, der in Los Angeles lebt, ist das definitive Idol der gegenwärtigen Generation amerikanischer Kunststudenten und der überzeugendste Vertreter eines Stils, der verschiedentlich Abject Art (Elendskunst) oder Poverty Pop genannt wird. Die jungen Künstler knüpfen an den Grunge-Stil aus Popmusik und Mode an und sind von den mißratenen Formen und Materialien aus der Soziopathologie des Alltagslebens fasziniert.

Kelleys Kunst war denn auch bereits im letzten Sommer einer der zentralen Bezugspunkte der Gruppenausstellung „Abject Art“ im Whitney Museum. Diese Schau, von Studenten des Kunsthistorikers Benjamin Buchloh organisiert, galt den abseitigen Momenten der amerikanischen Nachkriegskunst. Sie konzentrierte sich auf Arbeiten, in denen Tabu-Materialien wie Haare, Dreck, Exkremente, Menstruationsblut oder verdorbene Lebensmittel verwendet wurden. Von Andy Warhols „Piss Paintings“ bis zu Kiki Smith' Skulpturenkadavern aus Bienenwachs folgte die Ausstellung der bösen Dynamik dessen, was die Studenten (in Anlehnung an Georges Bataille und Julia Kristeva) „Ekel und Begehren in der amerikanischen Kunst“ nannten.

Mike Kelley, der in einer katholischen Arbeiterfamilie in einem Vorort Detroits aufwuchs, erfuhr eine entsprechend repressive Erziehung. Eine Erfahrung, die bei ihm ein zwanghaftes Interesse an Systemen „unsinnigen Denkens“ hinterließ. In den mittsiebziger Jahren als formalistischer Maler ausgebildet, besuchte er später Cal Arts in der Nähe von Los Angeles, eine Kunsthochschule, die damals eine Bastion des kühlen Konzeptionalismus von John Baldessari und Douglas Huebler war.

Kelley, der seine Kunst heute als Rebellion sowohl gegen die formalistische Malerei wie die konzeptionelle Foto/Text-Kunst beschreibt, wurde auf die „dysfunktionalen Mythen“ aufmerksam, die er in den peinlichen Formen des amerikanischen Konsumerismus verkörpert fand. Adorno/Horkheimers Bedenken, daß die Kulturindustrie eine Infantilisierung der Massen bewirkt, übersetzt er gewissermaßen wortwörtlich in viele seiner Arbeiten. So inszeniert die sepiagetönte „Nostalgic Depiction of the Innocence of Childhood“ (1989) betitelte Fotografie in einem leeren Raum einen nackten Mann und eine Frau, die mit gespreizten Beinen, völlig außer sich, auf großen Plüschtieren reiten; Po und Rücken des Mannes sind mit einer dunklen Substanz beschmiert, die alarmierend an Kot erinnert.

Mike Kelley ist überzeugt, daß die Amerikaner eine fürchterliche Angst vor allem haben, was den Körper als eine Maschine entlarvt, die Abfall produziert, die sich abnutzt, die stirbt. „Amerikaner haben ein echtes Problem mit Scheiße. Sie wissen nicht, wie man damit umgeht. Scheiße ist schlimmer als Sex. Sie ist die demütigendste und peinlichste Angelegenheit unserer Kultur. Analer Humor ist der niedrigste gemeinsame Nenner unseres verlegenen Lachens. Deshalb kommt sie wieder und wieder in meinen Arbeiten vor.“ Und als ob diese Bemerkung noch unterstrichen werden sollte, zeigt die Titelseite des Katalogs Kelley in der Uniform eines Toilettenmanns mit Mop und einem Eimer Wasser in einem leeren weißen Raum.

Kelleys ehemaliger Job als Toilettenmann wird ebenfalls in einer Gruppe von 74 Abfallzeichnungen aus dem Jahr 1988 erinnert, auf die man gleich zu Ausstellungsbeginn stößt. Kelley kaufte alte Comic- Hefte, deren Hauptfigur der ewige Verlierer „Sad Sack“ ist. Dieser gemeine Soldat überdenkt sein Leben, während er Abfall zur Müllhalde transportiert. Kelley Projizierte die Müll- und Abfalldarstellungen auf große Papierbögen, um die Umrißlinien des Mülls anschließend in schwarzer Polymerfarbe nachzuzeichnen. Die daraus resultierenden Zeichnungen, die aus scheinbar absichtslosen und verstreuten Linien bestehen, zeigen nur Wirkung, wenn man sie in großer Zahl sieht, wie jetzt in der Whitney-Installation.

Zwei weitere Räume sind dort mit schmutzigen und zerfledderten Spielzeugtieren gefüllt, das bevorzugte Material für Kelleys „Half a Man“ benannte Serien der späten achtziger Jahre. Kelley nennt diese sägemehlgefüllten Tiere „Zuneigung-Verortungsdinger“, wegen der Art und Weise, wie Menschen ihre unterdrückten Emotionen auf sie projizieren. Wie er sagt, „klebt man an diesen Dingen, die man dir als Kind andrehte, und ist dazu verdammt, den Rest seines Lebens zu versuchen, sie wieder loszuwerden.“

In seinem faszinierendsten Stück setzt Kelley zwei Figuren, einen Bären und ein Kaninchen, einander gegenüber, während ein Kassettenrekorder seine eigenen verdrehten, in einer idiotischen Falsettstimme gesprochenen Dialoge abspielt. Ein typischer Dialog aus „Theory, Garbage, Stuffed Animals, Christ“ geht folgendermaßen: „Autoritäten müssen entkörperlicht werden, um zu funktionieren.“ „Ein Philosoph sollte niemals gesehen werden! Ein sichtbarer Philosoph ist ein durchschauter Manipulierer!“

Die schwächste Arbeit der Ausstellung ist unglücklicherweise auch die umfangreichste. In „Pay For Your Pleasure“ (1985), einem langen, eng gebauten Korridor, hängen große, farbige Portraitzeichnungen an den Wänden, die ein Pantheon der Geistesheroen von Platon über Goethe bis Sartre präsentieren. Jedes Portrait ist von einem Zitat begleitet, das die Asozialität und Hemmungslosigkeit des Künstlers mit der des Kriminellen vergleicht. Degas: „Ein Gemälde ist ein Ding, das ebensoviel List, Tücke und Gemeinheit verlangt wie das Begehen eines Verbrechens.“ Oscar Wilde: „Die Tatsache, daß jemand ein Giftmörder ist, sagt nichts gegen seine Prosa.“ Am Ende des Korridors angekommen, ist man mit einem peinlich amateurhaften Gemälde konfrontiert; dem Selbstportrait eines Mörders, der in einem New Yorker Gefängnis einsitzt. Die boshafte Unterstellung, das Bild sei so schlecht, weil der Künstler eben seine antisoziale Haltung ausagiert habe, anstatt seine Frustration in Kunst zu sublimieren, erinnert unangenehm an die faden konzeptionellen Witze, die Kelley zu verabscheuen vorgibt.

Die Ausstellung endet mit Kelleys Arbeiten aus dem letzten Jahr. Hier untersuchte er Handwerksarbeiten von Männern der Unterschicht und die amerikanische Obsession des gesunden Körpers. Eine simple Holzkiste, die an eine Lautsprecherbox erinnert, trägt den Titel „Primaling Cabinet“ und deutet an, daß sie für die Urschrei- Therapie nützlich sein könnte. „Orgone Shed“ ist nach Plänen gebaut, die Wilhelm-Reich-Anhänger zur Verfügung stellten; eine Fotowand mit Do-it-yourself-Plänen – „How to Build and Use an Orgone Accumulator“ – ist gleich daneben aufgebaut. Inzwischen arbeitet Kelley über ein bekanntes Stück kalifornischer Folklore, nämlich die Berichte von Leuten, die angeblich von außerirdischen Lebewesen entführt wurden.

Im Ausstellungskatalog diskutieren schließlich Jutta Koether, Diedrich Diedrichsen und Martin Prinzhorn die Kelley-Rezeption in Europa. Sie beschreiben die Faszination, die Europäer für das „schlechte Amerika“ der Massenmörder, Ghettogangs und high energy-Musik empfinden. Und sie machen deutlich, daß Mike Kelley und andere Künstler aus Los Angeles die notwendige Alternative zum trockenen moralischen Absolutheitsanspruch des Neo-Konzeptionalismus bilden, der New York zuletzt beherrscht hat.

Für sie signalisiert die Unfähigkeit vieler New Yorker Kunstkritiker und europäischer Kuratoren, Mike Kelleys Arbeiten zu verstehen, die Grenzen eines „falschen Internationalismus“ in der aktuellen Gegenwartskunst. Es sei falsch, argumentieren sie, alle Künstler in den gleichen Rahmen „universeller“ Bezugnahmen und Stile zu verweisen, damit ihre Arbeiten als Konsumangebote leichter um die Welt reisen. In Kelleys Werk – und dem anderer junger Künstler aus Südkalifornien – sehen sie ein Modell für einen neuen künstlerischen Regionalismus, der einen scharfen Bruch mit dem harmlosen, standardisierten Geschmack der internationalen Kunsthallen-Kreise bedeutet.

„Mike Kelley: Catholic Tastes“, bis 20. Februar 1994 im Whitney Museum of American Art. Die Ausstellung ist im Sommer 1994 im Los Angeles County Museum of Art zu sehen, im Herbst 1994 zeigt sie das Moderna Museet, Stockholm. Der Katalog kostet 35 Dollar.

Christopher Phillips ist Redakteur bei „Art in America“, New York.

Übersetzung: Brigitte Werneburg.