■ Friedhofsruhe und Innovationsgeplärr
: Serie: Die Krise der Universitäten (erste Folge) / An den Universitäten ist eine radikale Reform unter dem Zeichen der vier "D's" notwendig: Deregulierung, Distanzierung, Dezentralisierung, und ...

Friedhofsruhe und Innovationsgeplärr

Schon sah es so aus, als würden in diesem frühen Winter in Berlin unter dem Decknamen „Haushaltsstrukturgesetz“ die Universitäten selbst noch eines ihnen wenigstens nominell geltenden Gesetzes beraubt. Staatliche Regulierungsungetüme stellen sie ohnehin längst dar. Da stemmte sich dem staatseingriffskühnen Wissenschaftssenator, eine merkwürdig abstruse Amtsbezeichnung, der großkoalitionäre Wissenschaftsausschuß am späten Abend des 24. November kompromißstark entgegen. Sei's, weil die Abgeordneten sich ausweitende Unruhe befürchteten, sei's, weil sachte Einsichten dazu verhalfen: Die länger als neugeregelt Studierenden müssen nicht befürchten, unmittelbar finanziell zur Ader gelassen zu werden; der direkte staatliche Durchgriff, so die Universitäten Spar- und Studienauflagen nicht brav ausführen sollten, wird etwas wattiert. An staatlicher Definitionsmacht und fiskalischer Sanktion gebricht es ohnehin nicht. Und prinzipiell bleibt alles beim schlechten alten beziehungsweise beim unzureichend und vor allem restriktiv Neuen. Immerhin hatte eine Vollversammlung der Studierenden der Technischen Universität spät und hilflos einen unbegrenzten Streik beschlossen. Auch an der gedanken- und tatenarm gewordenen Freien Universität wurden Streikbeschlüsse erwogen.

Jedoch: (meist eher lähmender als aktivierender) Streik oder Kompromiß des parlamentarischen Wissenschaftsausschusses, der die zu spitz geratenen Stollen hochschulpolitischer Tretwerkzeuge ein wenig abschleift – die hochschulpolitische Lage in Berlin und anderwärts ist, schöngeredet, desolat. Die Journalistin Jutta Roitsch hat „die Ergebnisse von sogenannten Reformdiskussionen“ jüngst zusammengefaßt: „Es sind Strafaktionen in Gesetzesform, technokratische Vollzüge ohne jedes Engagement und ohne jede konkrete Erwartung an Mitverantwortlichkeit und Mitgestaltung durch die Universität.“ Eine flachsinnige Ekstase der Symptombenennungen und Dr.- Eisenbartschen Symptomkuren ist landauf, landab zu beobachten. Dieselben erfreuen in ihrer maßnahmereichen einäugigen Kurzsichtigkeit nur insofern, als neuerdings im verzweigten Friedhof der gräberreichen Bildungspolitik wieder, wenngleich nur mit bürokratischer Leier, gespielt wird. Jahre zuvor waren Bildungs- und Hochschulpolitik ein Unthema. So wird auch die seltsame Karriere eines Kanzler(berater)worts, das des „Bildungsgipfels“, verständlich. Schon vor diesem erzeugte derselbe einen „Gegen-Gipfel“, so daß zwei alpine Attrappen einander mächtig gegenüberstanden. Doch wir leben wohl nicht ohne Grund in der Zeit der telematischen Wiederkehr von Dinosauriern. Was Wunder, daß dann der Bildungsgipfel in der untersten Talsohle erfreute.

Was für die gegenwärtige (etablierte) Politik allgemein gilt, trifft für die Bildungspolitik im besonderen zu. (Die Forschungspolitik wird übrigens typischerweise nahezu vollkommen ausgeblendet. Als stelle sie kein Problem dar. Als gelte es nur, selbige im Innovationsdusel noch massiver zu finanzieren und noch enger an die technisch umsetzbaren und ökonomisch verwertbaren Innovationen zu binden.) Was am meisten erschreckt, ist weniger das, was geschieht, so blödsinnig es im einzelnen sein mag. Was vor allem erschreckt, ist das, was nicht geschieht, ist die schiere Unfähigkeit auch nur zu einer redlichen Beschreibung der Probleme und deren nüchterner Analyse. Von einigermaßen ausgeloteten Konzepten mit Perspektive kann vollends keine Rede sein. Blindes Standortgeschwätz lärmt im deutschen Raum, so daß der restliche Geist demselben panisch entflieht.

Wenn das, was an ihnen geschieht beziehungsweise nicht passiert, nicht so prägewirksam wäre, man überließe die Universitäten am liebsten ihrem Sumpf. Das Häuflein der sich wehrenden Studierenden bestätigt zwar, daß inmitten von Bürokratie, Karriere und lautlosem Aussickern aus den unheiligen Hallen der Universität sich immer erneut Widerspruch regt. Doch als relevante und intellektuell kompetente Druckgruppe scheidet die „einsame Masse“ der Studierenden weithin aus. Noch öder mutet die Lage unter den Professorinnen und Professoren an, vom fast nicht mehr erkenntlichen, hochschulpolitisch verantwortungslos zerschlagenen „Mittelbau“ zu schweigen. Individuelle Leistungen gibt es immer noch in erklecklicher Zahl. Nach Äußerungen von relevanten Gruppen von Hochschullehrern, die ihrer eigenen Institution in toto gelten, sucht man indes vergebens. Als zählten nur die Berufungs- und Bleibeverhandlungen, die individuelle Karriere mit den Skalps finanzschwerer, reputierlicher Forschungsprojekte am Gürtel und das Reiseprogramm zu internationalen Konferenzen. Gab's zu Zeiten der Ordinarienuniversität wenigstens noch ab und an eine knorrige Eiche oder eine ästeweite Buche, so steht der eng bestandene Fichtenwald der Lehrenden, nur ab und an von einer Lichtung unterbrochen, „schwarz und schweigend“. Die Professorenschaft ist keine intellektuelle, keine politische Größe. Gewiß: Die Resterledigung der Universität durch die bürokratische Antwort auf die kontinuierlich falsch prognostizierte Steigerung der Nachfrage, durch staatliche Überregulierung und die damit korrespondierende Atomisierung der Lehrenden und Lernenden verhindert universitäre Öffentlichkeit und Kommunikation. Selbst ein altes Hochschullehrerreptil mag sich nicht ganz eingestehen, daß Wissenschaft als Beruf heute bestenfalls Kopfarbeiter schafft, die sich festtäglich ab und an mit Humboldtscher Brillantine frisieren, aber keine querdenkenden, institutionell verantwortlichen Intellektuellen. Sonst müßte der Ruf verzweifelten Engagements für die kaputte Universität durch die Lande hallen.

Inner- und außeruniversitär werden die Aufgaben fahrlässig liegengelassen, die die Gestaltung der Bildungseinrichtungen allgemein und der Hochschulen insbesondere zu dem Politikum schlechthin machen. Zu den Zukunftsaufgaben gehören die in die Entwicklung der Wissenschaften selbst eingebauten Katastrophen ökologischer, sozialer und moralischer Natur. Die zentrifugal sich spezialisierenden Wissenschaften, deren Einheit nur durch die Einheit des technologisch-ökonomischen Verwertungspostulats garantiert wird, sind längst aus Schlüsseln zur Lösung von Problemen zu Problemen selbst geworden; letztere werden dadurch verschärft, daß es nicht einmal Ansätze einer fächerübergreifenden und die „externen“ Effekte der Wissenschaften einbeziehenden öffentlichen Debatte gibt.

Im Gegenteil: Innovation aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse wird aller randständigen Kritik und allem Prinzip-Verantwortungs-Gerede zum Trotz zum geradezu magischen Fetisch in einem angeblich nachmetaphysischen Zeitalter. Dieser sich dynamisch verschärfende „Zustand“ der Wissenschaften, von Wissenschaften, die sich selber nicht begreifen, hat u. a. zur Folge, daß die Humboldtsche Formel von der „Bildung durch Wissenschaft“ längst in die Irre führt. Die fachidiotische Wissenschaft hat Lehr-Lern-Prozesse mit fachidiotisierendem Ausgang zur Folge. Bildungsreform, wenn sie den Namen verdiente, muß heute also nicht nur das drängende Problem lösen: große Zahlen von Studierenden qualitativ akzeptabel auszubilden. Und große Zahlen von Studierenden sind demokratisch-menschenrechtlich in einer Zeit global wachsender Komplexität erwünscht, ja notwendig. Vielmehr muß Bildungsreform in eins mit einer notwendigen Forschungsreform darauf ausgehen, die gegebenen Wissenschaften in Form und Inhalt anders zu vermitteln, um kompetente und urteilsfähige Bürgerinnen und Bürger heranzubilden. Wenn so gedankenwidrig weitergemacht wird, wenn nur restriktive und an einem äußerlichen Maßstab bemessene Effizienzkalküle eine Rolle spielen, dann verstärkt, vertieft und legitimiert die segmentalisierte Ausbildung in Bildungsklassen den Arbeitsmarkt.

Um Aufgaben, wie die angedeuteten, gerechter zu werden, sind geradezu radikale Reformen geboten. Dieselben wurden gemäß der allzu lang geltenden Lebenslüge deutscher Universität, sie sei „im Kern gesund“, folgenreich versäumt. Eine solche Reform müßte organisatorisch insgesamt unter dem Zeichen von vier großen Ds stehen. Nur eine solche Reform ließe die gegenwärtige Misere und den Hirntod der Universität überwinden. Der Reregulierung; der Distanzierung; der Dezentralisierung und der Demokratisierung. Deregulierung meint, daß die seit Humboldt trotz der „Zeiten ungeheurem Bruch“ nie in Frage gestellte Staatsqualität der Universität gründlich zu revidieren wäre. Infolge der sich im Laufe der Entwicklung verdichtenden Staatsqualität wurde auch die Behauptung universitär-wissenschaftlicher Autonomie mehr und mehr zur täuscherischen Leerformel. Deregulierung meint nicht, daß die Universität nicht als emphatisch öffentliche Einrichtung zu organisieren wäre; eine öffentliche Anstalt indes eigenen Rechts und so gearteter Mittel der Finanzierung, daß dieselben keine Dauerintervention ermöglichen. Distanzierung bezeichnet eine damit verbundene Eigenschaft.

Gerade um angemessener Konzepte der Problemlösung willen bedarf eine komplexe Gesellschaft heute mehr denn je der Einrichtungen à la Universität, die in bewußtem (und kontrolliertem) Abstand zur politisch ökonomischen Problemproduktion des Tages installiert werden. Dezentralisierung heißt das prekäre „Wundermittel“, um den bürokratisch tötenden Effekt der Größe in qualitativ annehmbarer Balance zu halten. Damit aber die vorbezeichneten „Ds“ eine höhere inneruniversitäre und gesamtgesellschaftliche Verantwortung erlauben, bedarf es einer durchgehenden Demokratisierung forscherischer und bildnerischer Prozesse. Gerade dann lassen dieselben die Fehler der sich selbst blockierenden und ungeheuer aufwendigen, durchaus nicht antibürokratisch wirkenden „Gruppenuniversität“ vermeiden.

Das zentrale Problem besteht allerdings nicht darin, die angedeutete Reformrichtung im Sinne der ausgeflaggten „D's“ konzeptionell genauer in Form und Inhalt durchzukonjugieren. Würden die Bildungsinstitutionen und diejenigen, die sich um dieselben kümmern, allein die negativen und positiven Erfahrungen halbseitiger und halbgebildeter Reformen und Gegenreformen (à la Hochschulrahmengesetze seit 1974) endlich einmal reflexiv ausbeuten, für das, was problemangemessene Reform heute genannt werden kann, könnte ungemein gelernt werden. Das zentrale Problem besteht viel eher darin, daß es gegenwärtig so scheint, als könne man weder inner-, noch gar außeruniversitär mit der besten Konzeption, die der Problemkontur des Jahres 2000 demokratisch zu entsprechen versuchte, auch nur einen Hund hinterm Ofen hervorlocken. Friedhofsruhe mit Innovationsgeplärr. Allein die prognostische Unwahrheit des analytisch begründeten Pessimismus gibt Hoffnung. Auf dieselbe setze ich. Selbst die unzureichenden Symptomkuren fielen anders, nicht verschlimmbösernd aus, erfolgten sie eingedenk der Konzeption einer radikalen Universitätsreform. Dieselbe findet, nötiger denn je, gegenwärtig keinen Ort.

Der Autor ist Professor für Politik an der Freien Universität.

Die Serie wird am Montag nächster Woche fortgesetzt mit einem Beitrag von Professor Peter Grottian.