Kuba in den Zeiten der Staatsanwälte

Das Land erlebt eine Welle der Kriminalität – der Staat antwortet mit drakonischen Strafen. Vier Jahre Gefängnis für „asoziales Verhalten“ sind da keine Seltenheit mehr  ■ Aus Havanna Bert Hoffmann

Der Anwalt wird auf Freispruch plädieren. Sein Mandant ist ausgerastet. Einfach ausgerastet. Hat die langen Stunden ohne Licht und Strom nicht mehr ausgehalten. Acht, zwölf, bis zu sechzehn Stunden Stromsperre jeden Tag, da verfault alles im Kühlschrank. Ein Familienvater, 35, der sich bislang nie etwas hatte zuschulden kommen lassen. Auch das CDR in seinem Block, das „Komitee zur Verteidigung der Revolution“, hat bislang keine schlechte Meinung über ihn gehabt. Ein ruhiger Bürger.

Und der ist ausgerastet, hat irgendwann im August, in diesen deprimierenden Stunden der Dunkelheit, eine Flasche Schmieröl gegriffen, mit einem Fetzen Stoff ihren Hals verstopft und hat das dann, ja, er ist voll geständig, gegen das Gebäude der Kommunistischen Partei Kubas in seinem Stadtteil geworfen. Und jetzt steckt er in der Scheiße.

Früher, vor ein paar Jahren, wäre so ein Fall eine Lappalie gewesen, sagt Martin Padrón(*), sein Anwalt. Natürlich hätte der Mann gehörigen Ärger bekommen, vielleicht sogar eine Strafe wegen Sachbeschädigung. Aber jetzt... – Martin Padrón legt die Stirn in Falten. Er ist Anwalt der Verteidigung. Wie Fidel es früher war, sagt er. Und Parteimitglied, aus Überzeugung. Einer, dessen Vertrauen in den Máximo Lider der kubanischen Revolution noch immer ungebrochen ist, trotz der miserablen Lage der Wirtschaft und allem. Nein, wenn einer das Ruder herumreißen kann, dann der Comandante. Ohne Fidel wäre hier alles verloren, dann kämen die Yankees und – zack!, sein Zeige- und Mittelfinger schneiden ihm die Kehle durch.

Daß aber auch mit Fidel das Leben in Kuba brutaler wird, braucht Martin Padrón niemand zu erklären. Die alarmierend hohe Zahl von Einbrüchen und die wachsende Alltagsgewalt, die kleinen Diebstähle und die großen menschlichen Tragödien sind ja sein täglich Brot als Anwalt. Denn die sich immer weiter verschlechternde Versorgungslage hat zu einem auf der sozialistischen Insel früher unvorstellbaren Anstieg der Kriminalität geführt. Allein das Delikt „Raub mit Gewaltanwendung“ hat 1993, so eine unlängst bekanntgegebene Zahl, um nicht weniger als 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr zugenommen. Und es ist nicht nur ein Phänomen der Städte: Der Viehdiebstahl – oft einfach das nächtliche Abschlachten von Vieh auf der Weide oder in den Ställen – hat in diesem Jahr um 19 Prozent zugenommen, so die offizielle Zahl.

Bei dem Mandanten von Martin Padrón liegt der Fall anders. Von der Flasche Schmieröl aufs Parteihaus gibt es am nächsten Tag ja noch lange kein Fleisch für die Familie und keine Milch für die Kinder. Non-profit, sozusagen. Und trotzdem sind in jenem August, als die Stromsperren so endlos waren wie nie zuvor, überall in Havanna Flaschen geflogen und Scheiben zu Bruch gegangen. Fast wahllos waren dabei die Ziele, an denen sich Frustration und Verzweiflung entluden. Jeder in Havanna kann sie in seinem Viertel aufzählen: die Apotheke in der 24. Straße; der Fischladen an der 23., Ecke 28.; der Kaffeeausschank „El Saladito“ an der 17. Straße, Ecke 24.; „La Cuevita“ in der 23. Straße und so weiter und so fort. Die Fensterrahmen sind noch immer notdürftig mit Pappe verklebt. Keine große Randale, eher biederer Glasbruch, über den autonome Streetfighter hierzulande wohl nur mitleidig lächeln würden.

Auch der Mandant von Martin Padrón hat ja keinen Molotowcocktail geworfen, der das Parteihaus in Flammen aufgehen ließ, sondern eine banale Flasche Schmieröl, die zunächst einmal nicht mehr als einen häßlichen Fleck hinterläßt. Und der Mann hat, dies wird der Kern von Padróns Plädoyer vor Gericht sein, zu keinem Zeitpunkt Anstalten gemacht, das geworfene Öl oder irgend etwas anderes in Brand zu setzen.

Kubas „heißer August“: Fälle, die so unspektakulär sind, daß sie im weltweiten Medienbusiness kaum eine Kurzmeldung wert waren. Keine Todesopfer, keine prominenten Dissidenten, no news. Und dennoch: Dieser August, in dem es auf der ganzen Insel, sogar in verschlafenen Kleinstädten in der Provinz, zu Steinwürfen und Scherben kam, hat Kuba mehr verändert, als jede Bombe aus Miami es könnte. Gerade daß die Proteste so offenkundig dilettantisch und von keiner politischen Opposition gesteuert waren, machte deutlich, daß auch das vielbeschworene kubanische Volk aus Menschen besteht, die nicht alles ertragen, deren Leidensfähigkeit und Opferbereitschaft Grenzen hat.

Und die Reaktion der Staatsmacht hat gezeigt, daß man sich der Brisanz dieser Entwicklung sehr wohl bewußt ist. Praktisch über Nacht wurden, allem Ölmangel zum Trotz, die Stromsperren über Tage hinweg völlig ausgesetzt und dann auf handhabbarere Zeiträume reduziert: vier Stunden an diesem, sieben Stunden an jenem Tag, mal fünf Stunden, und mal gibt es auch den ganzen Tag über Strom. Vor allem aber wird dafür gesorgt, daß die kritischen Stunden der Dunkelheit nur noch recht selten lange ohne Licht bleiben.

Strom als karges Zuckerbrot. Und die Peitsche: law and order, hartes Durchgreifen, drakonische Strafen, Exempel statuieren. In den Worten der Parteizeitung Granma, deren ganzseitiges Editorial unter der Überschrift: „Die Ruhe der Bürger – eine Errungenschaft, die nicht aufgegeben werden kann“, für Martin Padróns Mandanten nichts Gutes verheißt: „In diesen zugespitzten Momenten der ,Sonderperiode‘ werden die Lumpen und Asozialen, die versuchen, die Ordnung zu stören und Mißtrauen in unsere Gesellschaft zu bringen, die schlagende Antwort des ganzen Volkes (...) gemeinsam mit der entschlossenen und effektiven Aktion der Polizei, der Staatsanwaltschaft und der Gerichte erhalten.“ Und weiter: „In bezug auf die Politik der Konfrontation auf der Ebene von Justiz, Strafmaß und Inhaftierung wurden Präzisierungen und Anpassungen vorgenommen, die den Bedingungen der ,Sonderperiode‘ entsprechen (...) und eine starke Antwort garantieren“ (Granma Internacional, 22.9.93).

Daß dies keine leeren Drohungen sind, weiß in Kuba jeder. Was ihn aber ärgert, sagt Martin Padrón, ist, wie das Ausland das wieder darstellt. In den 80er Jahren hatten wir hier, so der Anwalt, die große Lockerung der Strafgesetze – und ist bei euch da jemals irgend etwas drüber berichtet worden? Aber jetzt, wo es wieder rückwärtsgeht, stürzen sich alle drauf!

Jetzt, wo es wieder rückwärtsgeht: zum Beispiel der Gummiparagraph gegen „asoziales Verhalten“. Genauer: gegen das Delikt der „peligrosidad social“, wie es im kubanischen Gesetzbuch heißt, der „Gefahr für die Gesellschaft“. Diese nämlich ist nicht erst dann gegeben, wenn eine Straftat begangen wird, sondern bereits dann, wenn eine Person „eine besondere Neigung“ zur Begehung von Straftaten aufweist, die sich „in einem Verhalten zeigt, das in offenem Widerspruch zu den Normen der sozialistischen Moral steht“. Die gängigsten Begründungen: jemand arbeitet nicht und hat trotzdem Geld, besäuft sich häufig oder ist oft in Schlägereien verwickelt. Strafmaß: zwischen einem und vier Jahren Gefängnis.

Nun ist dieser Asozialen-Paragraph in Kuba nicht neu; neu ist seine massenhafte Anwendung: Um den Anfängen sozialer Unruhe mit aller Härte zu wehren, sind zwischen dem 20. August und dem 1. November nicht weniger als 2.500 Kubaner auf diese Weise in den Knast gewandert – das sind mehr als im ganzen letzten Jahr zusammen.

(Eine Randbemerkung zu den gewandelten Zeiten: Früher war auch der Vorwurf der Prostitution ein völlig ausreichender Grund, als „asoziales Element“ abgeurteilt zu werden; seit die Regierung in Havanna den Dollar-Tourismus forciert und der käufliche Sex boomt, wurde diese Begründung stillschweigend ad acta gelegt. An ihre Stelle ist eine heuchlerische Doppelmoral getreten, die Prostitution weiter im Illegalen beläßt, es in der Praxis dem Staat aber erlaubt, sie aktiv zu tolerieren und als nichttraditionelle Devisenquelle abzuschöpfen.)

Nein, diesen Paragraphen, der Menschen für Taten verurteilt, die sie in Zukunft begehen könnten, den liebt Martin Padrón nicht, aber doch, er hält ihn für Rechtens. Eine Gesellschaft, sagt er, muß sich schützen. Ihr laßt in Deutschland einen gewalttätigen Geisteskranken ja auch nicht frei herumlaufen und wartet ab, bis er den ersten umgebracht hat! Aber das muß ganz sorgfältig entschieden werden, wirklich von Person zu Person, und ganz genau geprüft in jedem einzelnen Fall. Aber, und die Sorgenfalten auf der Stirn werden von einem Stoßseufzer begleitet: Bei uns wird da ja immer gleich eine Kampagne draus! Da wird dann schnell alles über einen Kamm geschoren, da bleibt natürlich die Gerechtigkeit auf der Strecke, klar. In der letzten Parteiversammlung seines Stadtteils, erzählt der Anwalt, hat er sich lange darüber gestritten mit den Genossen. Es ist nicht einfach dieser Tage, nein.

Derweil sitzt sein Mandant in Untersuchungshaft. 1.225 neue Polizisten wurden im September in Havanna zusätzlich in Dienst gestellt. Im November hat ein Schulungskurs für 2.300 weitere begonnen. Der Staatsanwalt wird die Flasche Schmieröl als „bewaffneten Angriff“ gegen eine Institution des Staates werten, vermutet Martin Padrón, wird vier Jahre Gefängnis fordern, ohne Bewährung. Er selbst wird auf Freispruch plädieren. Allenfalls Sachbeschädigung. Die Chancen? Ein Blick sagt alles. Es sind Zeiten des Staatsanwalts.

(*) Name geändert – d.R.