■ Die Arbeitsumverteilung entsprechend abfedern
: Guter Wille allein reicht nicht

Zwei deutsche Großkonzerne, die sich beide sehr viel auf ihren sozialpartnerschaftlichen Umgang mit den Beschäftigten und den Betriebsräten zugute halten, exerzieren derzeit die beiden alternativen Wege aus der Krise vor: Der Daimler-Konzern unter Leitung des hochgeschätzten, viel zitierten sozialdemokratischen Vorzeigemanagers Edzard Reuter setzt auf die traditionelle, die brutale Methode: Bis Ende 1994 sollen rund 70.000 Arbeitsplätze, davon 61.000 im Inland, vernichtet werden. Und weil Massenentlassungen nicht umsonst zu haben sind, wird sich der Konzern das mehr als zwei Milliarden Mark kosten lassen. Die darüber hinausreichenden Folgekosten gehen als Lohnersatzleistungen zu Lasten des Arbeitsamts, als Steuerausfälle zu Lasten des Finanzamts, werden also der Allgemeinheit aufgebürdet.

Einen anderen Weg geht VW mit dem rüden Ferdinand Piäch an der Spitze. Die Viertagewoche bei VW bringt – trotz aller Unkenrufe – Vorteile für alle Seiten. Der Konzern spart Milliardensummen für Sozialplanleistungen und erreicht eine spürbare, aber möglicherweise nicht ausreichende Senkung der Personalkosten. Die rund 31.000 VW-Beschäftigten werden durch ein tarifvertraglich bindendes Entlassungsmoratorium bis auf weiteres geschützt. Die Allgemeinheit und die Region werden von den Folgekosten massenhafter Arbeitslosigkeit verschont.

Willi Brüggen (taz, 24.11.93.) hat recht, wenn er die politischen Chancen des VW-Modells beschwört, auch wenn der wortreiche Versuch, nun ganz eilig das „Bündnis 90/Die Grünen“ auf diese Schiene zu setzen, vor allem etwas über die langjährigen politischen Defizite grüner Parteipolitik aussagt. Die Einigung von Wolfsburg kann, wenn sie politisch genutzt wird, einen reformerischen Durchbruch einleiten. Sie zeigt: Es gibt auch andere Wege der Krisenbewältigung als jene, die uns von den Ideologen des Unternehmerlagers und der Regierung seit Jahr und Tag eingehämmert werden.

Bis in den Herbst hinein wurde die Öffentlichkeit von den Kassandrarufen der Unternehmer beherrscht, die Deutschen seien zu teuer und zu faul. Kohl leistete sich seinen zynischen Ausrutscher vom „Freizeitpark Deutschland“. Und Wirtschaftsminister Rexrodt wurde nicht müde, im Verein mit den Unternehmerverbänden die „Kostenkrise“ der deutschen Industrie zu beschwören und eine Verlängerung der tariflich vereinbarten Wochenarbeitszeit zu fordern. Natürlich weiß er, daß dies die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland noch mehr in die Höhe treiben würde.

Inzwischen ist der Wirtschaftsminister vollauf damit beschäftigt, das VW-Modell zum nicht verallgemeinerbaren Einzelfall herunterzureden. Dies mag für die Details zutreffen, für den Grundgedanken ganz sicher nicht. Der lautet: Umverteilung von Arbeit ist machbar. Es gibt gangbare Wege zu einer solidarischen, reformerischen Krisenstrategie, die unendlich viel praktischer und handfester sind als die vage Hoffnung auf einen irgendwann einsetzenden allgemeinen Wirtschaftsaufschwung. Die allein auf Weltmarktkonkurrenz und angeblich zu hohe Arbeitskosten fixierte konservative Standortdebatte, die den Arbeitsmarkt zwar immer im Munde führt, aber als dem allgemeinen Wirtschaftsprozeß grundsätzlich nachgeordnete Größe behandelt, hat zumindest vorübergehend ihre öffentliche Dominanz verloren.

So bekommen die Gewerkschaften und die politischen Reformparteien eine Chance, die Diskussion um gangbare, reformerische Strategien gegen die Massenarbeitslosigkeit in den Mittelpunkt der innenpolitischen Auseinandersetzung zu stellen. Das ist kein Rückfall in abgestandene sozialdemokratische Weltbilder, sondern die Konsequenz einer dramatisch veränderten sozialen Situation in Deutschland: Jede Reformpolitik, ganz gleich welches ihre originären Inhalte sein mögen, wird scheitern, wenn sie sich für die Menschen nicht mit einer Perspektive sozialer Krisenlösung verbindet. Da hat Scharping völlig recht.

VW bietet nun die Chance, ein paar einfache Wahrheiten wieder sichtbar zu machen:

– Arbeitszeitverkürzung ist bei gegebenem oder gar schrumpfendem gesellschaftlichen Arbeitsvolumen der einzige Weg, die knapp gewordene Arbeit auf mehr Menschen zu verteilen bzw. zusätzliche Arbeitslosigkeit zu verhindern. Die Autoindustrie steckt wie die meisten anderen Branchen weltweit in einer tiefen Absatzkrise bei gleichzeitig horrenden Überkapazitäten. Eine Ausweitung der Produktion ist kurzfristig nicht zu erwarten. Wachstumsraten, die zu einer Ausweitung des Beschäftigungsvolumens führen, wären ökologisch katastrophal und sind auf absehbare Zeit ohnehin nicht zu erwarten.

– Die Verkürzung der Arbeitszeit muß, wenn sie arbeitsumverteilend wirken soll, größer sein als der zu erwartende Produktivitätseffekt. Bei VW ist dies zumindest für die Laufzeit des abgeschlossenen Vertragswerks durch ein faktisches Entlassungsmoratorium weitgehend gewährleistet. Gleichzeitig ist zu erwarten, daß auch bei VW – mit oder ohne Viertagewoche – die Bemühungen um effektivere Arbeitsorganisation, etwa durch Einführung von Gruppenarbeit, intensiviert werden.

– Die soziale Reichweite von Strategien der Arbeitsumverteilung ist um so größer, je höher der Lohnausgleich ausfällt. Das netto verfügbare Haushaltseinkommen einer durchschnittlichen vierköpfigen Arbeiterfamilie in Deutschland ist knapper, als viele meinen: es liegt bei 3.000 bis 3.700 Mark. Lohnsenkungen von zehn oder mehr Prozent sind für die bislang über Branchendurchschnitt entlohnten VW-Beschäftigten leichter zu verkraften als für die meisten anderen.

– Die in der Öffentlichkeit viel diskutierte Flexibilisierung hat nichts mit Arbeitszeitverkürzung oder Arbeitsumverteilung zu tun. Für die Unternehmen geht es dabei um die bisher tariflich begrenzte Möglichkeit, Produktionsschwankungen ohne Überstundenzuschläge oder Neueinstellungen abzufangen – also um Kostensenkung, um den Abbau von Randbelegschaften. Für die Beschäftigten geht es darum, über Dauer und Lage der Arbeitszeit möglichst selbstbestimmt zu entscheiden. Dazu gehören auch erweiterte Möglichkeiten zu freiwilligen Arbeitspausen.

Mehrheitsfähig wird eine Strategie der Arbeitsumverteilung nur dann, wenn sie die Interessen der Arbeitslosen mit denen der Beschäftigten zusammenbinden kann. Dies ist nicht allein mit dem Appell an Solidarität und Opferbereitschaft der Beschäftigten möglich – schon gar nicht, wenn er sich an die Gruppen mit mittlerem oder geringem Einkommen richtet.

Arbeitsumverteilung muß für die noch Beschäftigten durch steuerliche Entlastungen, durch arbeits- und sozialrechtliche Absicherungen, durch sozial gestaffelte Lohnausgleichsregelungen attraktiv gemacht werden. Das Recht auf Arbeit wird in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit nicht durchgesetzt werden können, wenn es nicht durch das Recht auf zeitweilige Nichtarbeit ergänzt wird. Martin Kempe