Bonbon für alle -betr.: "Rotgrauer Studie-Bonbon", taz vom 30.11.93

Betr.: „Rotgrauer Studi-Bonbon“, 30.11.93

(...) Das Semesterticket, das ab Wintersemester 1994/95 den 65.000 Studierenden der Hamburger Hochschulen freie Fahrt im HVV-Netz gewähren soll, wird seit nunmehr über einem Jahr verhandelt. Durch den mangelnden politischen Willen zur Durchsetzung des Tickets schleppen sich die Verhandlungen bis heute hin. Gleichzeitig stiegen die Fahrpreise des HVV um ca. 12%, so daß der einst errechnete Preis pro Semester und StudentIn von DM 178,- auf die psychologisch delikate Summe von DM 199,- anschwoll. (...) Machen wir uns nichts vor: Wir befinden uns in einer derben Rezession, und kein Zeitpunkt wäre ungünstiger zur Einführung einer sozialen Innovation. (...) Der Trend geht vielmehr dahin, traditionell sinnvollerweise in öffentlicher Hand befindliche Unternehmungen wie den ÖPNV durch Privatisierung auf eine strikte Kostenverteilung nach dem Verursacherprinzip einzuschwören. Das Semesterticket schwimmt also gegen den Strom.

Die Verteilungskämpfe in der derzeitigen Rezession sind offensichtlich so starr, daß selbst eine progressive Gazette wie die taz Hamburg nicht umhinkommt, das Ticket polemisch als „rotgraues Bonbon“ zu bezeichnen und ihm im selben kurzen Artikel drakonische Sparmaßnahmen im Bereich Kultur und Bildung entgegenzustellen. Lieschen Müller müßte jetzt erröten und vor Scham im Boden versinken, wüßte sie es nicht besser, weil sie annehmen muß, daß ihre Busfahrkarte nur so billig sein kann, weil es dafür in der Stadt keine Theater und nur noch ein Not-Bildungswesen gibt, bis der langersehnte nächste Aufschwung sein blaues Band flattern läßt. So ist es jedoch vermutlich nicht: (...) Sollte das Ticket zum politischen Preis von DM 178,- durchkommen (...), so ergäbe sich aus der Differenz zum aktuellen kalkulatorischen Preis von DM 199,- eine weitere Belastung von DM 2,73 Millionen pro Jahr für das Stadtsäckel, die zum einen von höheren Konsumausgaben geringverdienender Haushalte (denn nichts anderes sind Studierende aus volkswirtschatlicher Sicht) reflektiert würden und zum anderen in keinem Verhältnis zu den Einsparungen in Zehnmillionen-Potenzen im Bidlungs- und Kultursektor stünden (...).

Das Modell strebt eine Verhaltensänderung der Zielgruppe an. Das Semesterticket wurde nicht aus ökonomischen Motiven von Vertretern der Sutdierendenschaft angeregt, sondern aus ökologischen Erwägungen heraus. Verlierer der Maßnahme sind also notwendigerweise alljene, die den unbegrenzten Zugang zum öffentlichen Nahverkehr nicht nutzen wollen. (...) Wer weiterhin mit dem PKW zur Uni, zur Arbeit, zur Freundin oder in die Badeanstalt fährt, obwohl ihn der Bus nichts weiter kostet, zahlt beim Semesterticket drauf. Das war auch immer so geplant. Wer hingegen diesen Bonus intelligent zu nutzen weiß und, auch wenn der bequeme Privatwagen vor der Tür steht, abwägt, ob er diese oder jene Strecke nicht besser per Bahn und Bus überwinden kann, der wird am Ende noch sparen.

Am meisten profitieren freilich diejenigen, die bereits den HVV nutzen. Wer bislang eine Monatskarte hatte, behält die ihm bekannten Leistungen und zahlt DM 560,- weniger im Jahr für seine Mobilität. (...) Wenn die Politik es versteht, aus dem ökologischen Aspekt des Semestertickets Kapital zu schlagen und bedenkt, daß die ärmeren Studierenden das Mehr an Geld, das ihnen bleibt, auch in Konsum umsetzen, stellt sich heraus, daß das Bonbon für den Bonbongeber ebenso süß wie für den Bonbonnehmer ist.

Claus Eschemann